Viktor
Viktor
- liquidator
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Viktoriia Naumenko (im Folgenden V.N.): Heute haben wir den 17. Januar. Wir befinden uns im Büro von „Sojuz Tschernobyl“. Ich, Viktoriia Naumenko, mache ein Interview mit… Stellen Sie sich bitte vor.
Viktor Bystrichenko (im Folgenden V.B.): Viktor Grigoryevich Bystrichenko.
V.N.: Freut mich. Beginnen wir unser Gespräch mit einer allgemeinen Frage. Erzählen Sie bitte von Ihrem Leben.
V.B.: Naja, ich weiß nicht… Was meinen Sie damit? Personalien?
V.N.: Vielleicht Personalien, was… womit möchten Sie beginnen? Wie würden Sie von Ihrem Leben erzählen? Was war Ihnen wichtig?
V.B.: Na wahrscheinlich ist es wichtig, dass ich auf die Welt gekommen bin (lacht). Ich bin am 9. September 1958 in Petropawlowsk-Kamtschatsk geboren. Diese Stadt befindet sich im Osten, jetzt in Russland, damals war es die Sowjetunion. Ich bin dort aufgewachsen. Ich habe die Mittelschule beendet. Und dann bin ich nach Charkiw gekommen, wo ich an der Universität für Automobil- und Straßenbau immatrikuliert wurde und die ich 1981 beendet habe. Übrigens, wann sind Sie geboren?
V.N.: Ein Jahr später (lacht).
V.B.: Oh! Das heißt, Viktoriia, mein Erwachsenenleben begann ein Jahr früher, bevor Sie geboren worden waren. Dann hat für mich ein ganz normales Leben begonnen, das für die Menschen, die in der Sowjetunion geboren sind, typisch war. Arbeit entsprechend der Fachrichtung. Bis 1986 habe ich meinem Fach entsprechend in den Werken von Charkiw gearbeitet: im „Malyschev-Werk“, im „ChTS“ und bei einer Kältemaschinenfabrik. Und dann wurde ich 1986 zur Umschulung einberufen, um die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe zu beseitigen. 1986 wurde ich ausgemustert, nachdem ich eine hohe Dosis von radioaktiver Strahlung abbekommen hatte. Ich verbrachte acht Monate im Krankenhaus, in der Abteilung für Radiologie, dann habe ich den Behindertenstatus bekommen. Danach habe ich mich für das Tschernobyl-Thema gesellschaftlich sehr aktiv engagiert. Zusammen mit Freunden haben wir den Verband „Sojuz Tschernobyl“ im Kominterniwskij-Bezirk Charkiws gegründet. Und da habe ich von 1987 bis 1991 gearbeitet. Dann habe ich diese Arbeit aufgegeben und mein Geschäft gegründet. Mein Geschäft war… Sie schauen mich so an… dauert es zu lange?
V.N.: Ich prüfe nur, ob alles funktioniert.
V.B.: Ob alles funktioniert… Naja, dann habe ich mich selbständig gemacht, mal ging es besser, mal schlechter, mit Höhen und Tiefen. 1996 habe ich mit dem Geschäft aufgehört, ich habe mich meiner Familie und meiner Gesundheit gewidmet. Übrigens bin ich verheiratet, ich habe drei Kinder: zwei Söhne und eine Tochter. Meine Ehefrau arbeitet als Ärztin. Also das sind die wichtigsten Momente meines Lebens. Viktoriia, um Ihnen etwas ausführlicher erzählen zu können, schlage ich Ihnen vor, mir Nachfragen zu stellen.
V.N.: Fragen? Na klar! Dann kommen wir wieder zu 1986 zurück. Wie haben Sie überhaupt von der Katastrophe erfahren?
V.B.: Vita, naja, wir haben in einer Welt gelebt, wo das Informiertsein das Wichtigste war. Das Jahr 1986 hat jeden Bürger nicht nur der Ukraine, sondern auch der Sowjetunion sowie Europas und der ganzen Welt betroffen. Das ist eine weltweite Katastrophe gewesen! Und davon wusste ich natürlich auch.
V.N.: Na, erinnern Sie sich daran, wann Sie zum ersten Mal von der Tschernobyl-Katastrohe gehört haben? Ich meine, naja… als sie die Benachrichtigung bekommen haben, wussten Sie schon davon?
V.B.: Sicher! Ich erinnere mich nicht nicht genau, wann ich das erfahren habe, aber wahrscheinlich Ende April. Anfang Mai haben sich Gerüchte schon verbreitetet. Ich erinnere mich nicht, wann die offizielle Mitteilung kam, aber als ich die Benachrichtigung vom Militärkommissariat bekommen habe, wusste ich über diesen Unfall sicher Bescheid, und dass der Militärkommissariat zur Umschulung Offiziere der Reserve einberufte. Ich habe die Benachrichtigung bekommen, ich bin zum Militärkommissariat vom Kominternowskij-Bezirk gegangen und ich wurde nach Tschernobyl geschickt. Nein, zuerst wurde ich nach Iwankow geschickt und dann aus Iwankow nach Tschernobyl. Jetzt spreche ich mit Ihnen und erinnere mich genau, wie stark mich die Militär-Fahrzeugkolonne von der 25. Brigade der Chemischen Abwehr schockiert haben. Wie Sie wissen, gibt es einen Flughafen in Charkiw, und die Brigade der Chemischen Abwehr war dort einquartiert. In der Sowjetzeit wurde die ganze Technik stillgelegt. Da befand sich nur der Personalbestand der Einheit. Also, ich habe eine lange Militär-Fahrzeugkolonne gesehen, die seitens des Flughafens fuhr…
V.N.: Zur Trasse?
V.B.: Nein, sie fuhren Richtung Kiew. Naja, ich erinnere mich nicht mehr, welche Straße es war, der Gagarin-Prospekt oder die 50 Jahre-WLKSM-Straße. Ich erinnere mich nicht genau, aber es hat mich sehr beeindruckt. Ich habe sofort verstanden, dass einige wichtige Maßnahmen, die mit der Sondertechnik verbunden waren, begonnen hatten.
V.N.: Das heißt, Sie haben verstanden, dass es gerade um die Beseitigung der Folgen der Katastrophe ging?
V.B.: Sicher!
V.N.: Sie waren gerade auf einer Umschulung, oder?
V.B.: Na… Ich wohnte in Charkiw, ich war damals nicht auf einer Umschulung. Ich sah nur diese Technik auf den Straßen Charkiws, und die Umschulung… Welche Umschulung meinen Sie?
V.N.: Als Sie einberufen wurden.
V.B.: Ne, das war keine Umschulung. Das war mein Dienst. Eigentlich findet die Umschulung für Offiziere der Reserve, glaube ich, einmal pro Jahr statt. Jeden Monat oder je zwei Monate werden Offiziere zum Kommissariat einberufen, um ihre Kenntnisse, die sie an Instituten erworben haben, aufzufrischen. Ne, als ich in Tschernobyl eingesetzt wurde, da hatte der Wehrdienst schon begonnen. Und als ich nach Iwankow kam, war ich in der Zivilkleidung mit einer Mobilmachungsverordnung, mit meinen Unterlagen, dort haben wir eine Militäruniform angezogen und wurden sofort aus Iwankow nach Oranoje geschickt, wo die 25. Brigade von Chemischer Abwehr nämlich einquartiert wurde. Das ist das Feld zwischen dem Weg nach Tschernobyl und dem Wald, und in diesem Wald mussten wir Zelte aufschlagen, die Technik aufstellen und unseren Wehrdienst leisten. So war es.
V.N.: Das heißt, [wurden] Sie im ersten [Monat]… Wann wurden Sie einberufen? Im Mai?
V.B.: Nein, nicht im Mai. Ich bekam die Benachrichtigung, ich glaube, Ende Juni und mein Einsatz hörte im September auf, d.h. Juni, Juli, August, September.
V.N.: AlsoMonate?
V.B.: Ja.
V.N.: Als Sie einberufen wurden, erklärte man Ihnen in Charkiw oder in Iwankow, wohin und warum Sie fahren?
V.B.: Klar.
V.N.: Wirklich?
V.B.: Sicher! Es wurde sofort uns im Militärkommissariat in Charkiw mitgeteilt. Niemand verheimlichte das, und ich wusste, dass ich dorthin fuhr, um die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe zu beseitigen.
V.N.: Erinnern Sie sich an Ihre Gefühle? Hatten Sie Angst?
V.B.: Nein, ich hatte keine Angst, Viktoriia. Ich fühlte, dass – es ist ein bisschen pathetisch – ich war stolz, dass man mich brauchte. Für mich ist Tschernobyl nämlich die Zeit, als ich das Gefühl hatte, dass man mich brauchte… das Volk, der Staat. Weil ich einberufen wurde, war ich nötig! Ich habe mich davor nicht gefürchtet, ich machte mir keine Sorgen, ich machte keinen Versuch, mich meiner Pflichterfüllung irgendwie zu entziehen. Ich glaube, dass ich diese Probe mit Würde bestanden habe. So.
V.N.: Naja, könnten Sie bitte von Ihrem Einsatz in Tschernobyl etwas ausführlicher erzählen? Also, Sie kamen in Iwankow, in Oranoje an… Wie sind Sie angekommen? Wurden Sie planmäßig mit dem Bus geschickt?
V.B.: Nein! Nach Iwankow fuhren wir mit dem Zug. Ich meine, wir waren zu fünft. Wir benutzten das öffentliche Verkehrsmittel, wir erreichten das Dorf mit dem Zug. Und aus Iwankow wurden wir mit dem Auto… Mit dem Auto fuhren wir mach Oranoje. Wir kamen in Oranoje an, stellten uns dem Kommandeur vor. Wir wurden sofort nach dem Fach geteilt, um verschiedene Aufträge zu erfüllen. Ich wurde Kommandeur des Kraftfahrzeugzugs und Vertreter von „ORLO“. Meine erste Aufgabe war, die Technik für den Einsatz vorzubereiten. Die ganze Technik wurde aus der Einmottung gebracht. Was ist die Einmottung? Laut Mobilisierungsgesetzen gab es Technik, die lange nicht eingesetzt wurde. Sie befand sich in Boxen, deshalb musste man sie auf die Arbeit vorbereiten. Manche hatten keine Ersatzteile, manche wurden nicht eingestellt, es gab keine Fahrer. Und das war meine Aufgabe. In der Kompanie gab es zwei Kraftfahrzeugzuge, die Sondertechnik auf der Basis von SIL -131 und Ural-375. Und man musste diese Technik verbessern, einstellen, und Autos in Betrieb setzen, damit sie die Einsatzaufgabe erfüllen könnten.
V.N.: Meinen Sie, dass sie irgendwo in Oranoje waren?
V.B.: Im Dorf Oranoje. Es befand sich außerhalb der 30-km-Sperrzone, etwa 10-15 km von der Grenze der 30-km-Sperrzone. Wir wohnten in Zelten. Es gab da nichts und wir mussten alles selbst machen: Zelte aufstellen, WCs, Duschanlagen und Feldküchen einrichten. Naja, wir haben das gemacht. Das war aber nicht das Wichtigste. Viktoriia, das gehörte zum Alltag der Soldaten. Außerdem fuhren wir zum Kraftwerk. Es war die wichtigste Aufgabe. Ich fuhr als Gruppenleiter dorthin. Und nachdem man den Auftrag im AKW erfüllt hatte, begann wieder die Routinearbeit. Wie ich schon gesagt habe – Technik, Versorgung, Arbeit mit Menschen. Und danach kam man wieder planmäßig zum Kraftwerk.
V.N.: Und was haben Sie am Kraftwerk gemacht? Welche Aufträge haben Sie bekommen?
V.B.: Oh… (seufzt). Verschiedene Aufträge. Meistens waren es Deaktivierungsarbeiten. Damit Sie es besser verstehen könnten, erzähle ich von einem Tag. Also, von einem Tag, damit Sie sich vorstellen können, was ich gemacht habe. Am Abend vorher wird der Befehl erlassen, dass morgen bestimmte Militäreinheiten zum Kraftwerk fahren sollen. Also, z. B. irgendeine Kompanie, Leutnant Bystrichenko ist Obmann. Die Truppe untersteht meinem Befehl. Früh am Morgen, etwa um 6 Uhr, haben wir den Appell, wir steigen in die Autos ein und mit diesen Autos, Planen-Lkws, fahren wir zum AKW. Bei der Anfahrt zum AKW steigen wir aus und steigen in den Bunker hinunter. Im Bunker befindet sich die Dienststelle für Beseitigung der Folgen der Tschernobyl-Katastrophe. Wir erstatten eine Meldung, dass wir gekommen sind, um den Auftrag zu erfüllen. Offiziere und Gruppenleiter werden versammelt, um den Auftrag zu bekommen. Naja, zum Beispiel, ich habe den Auftrag bekommen, die Betonplatten auf dem Boden zu verlegen, um der Verbreitung Strahlung vorzubeugen, die aus dem Boden kommt. Der Offizier berichtet vom Grad der Verstrahlung in dem Bereich, wo ich arbeiten soll. Und das ist neben „HOJAT“ – dem Abfallgebäude mit dem Kernbrennstoff.
V.N.: Also…
V.B.: Na, Sie können das kaum verstehen, aber die Menschen, die mit Tschernobylzu tun hatten, verstehen, was HOJAT ist. Also, ich und meine Division kommen und sehen eine Menge von Betonplatten. Ich glaube, sie waren 6 x 1,5 Meter oder 6 x 1,5 Meter groß. Da steht ein Kran, ein Betriebskran mit einem Motor, und in der Kabine sitzt der Kranführer. Diese Kabine ist mit Bleiplatten verkleidet und es gibt nur eine kleine Spalte, damit der Kranführer die Situation kontrollieren kann. Ich erteile den Auftrag: Vier Menschen kommen aus dem Bunker, rennen schnell zu dieser Platte, die dort liegt, hängen besondere Haken an die Klammern der Platte, und rennen sofort zurück…
V.N.: Rennen zurück…
V.B.: …in den Bunker. Ich kontrolliere: Vier Menschen führten den Auftrag aus, der Kran hob die Platte an und transportiert sie zum Ort, wo diese Platten lagen. Wenn die vier ersten Menschen in den Bunker zurückkommen, bereiten sich schon die nächsten Menschen vor, und ich gebe ihnen die Anweisung: „Jungs, rennt schneller, lenkt euch nicht ab, legt die Platte so, dass sie korrekt neben den anderen Platten liegt, klappt den Haken ab und schnell zurück in den Keller.” Auf solche Weise führten wir den Auftrag aus. Hinauslaufen – den Auftrag erfüllen – zurücklaufen, das ist alles. Wie viele Platten haben wir gelegt? Soundsoviele. Danach versammelten sich meine Soldaten, wir stiegen in Autos, und ich fuhr sie zurück. Vorher ging ich natürlich in den Bunker, erstattete Bericht über den ausgeführten Auftrag, bekam Unterlagen und wir fuhren zurück nach Oranoje. Das ist ein Beispiel unseres Auftrags am AKW. Außerdem machte ich auch bei Endlagerungen im fünften Block und beim Aufräumen des Geländes mit.
V.N.: Sie sind auch ausgefahren, oder?
V.B.: Ja, natürlich. Warum? Weil man nur gewisse Zeit auf dem AKW bleiben durfte, abhängig von der radiologischen Lage. Die Strahlung kann 100 oder 500 Röntgen pro Stunde betragen, verstehen Sie? Deshalb ist die Aufenthaltszeit vielleicht eine halbe Stunde oder eine Stunde, denn es gab einen Befehl vom Verteidigungsminister, dass ein Militär nicht mehr als zwei Rem pro Tag bekommen darf. Danach kamen wir natürlich in die Einheit zurück und beschäftigten uns mit innerwirtschaftlichen Tätigkeiten in der 25. Brigade der chemischen Abwehr.
V.N.: Na, Sie haben die Endlagerung erwähnt, also die Beseitigung radioaktiver Stoffe… Was haben Sie konkret da gemacht? Haben Sie Technik begraben, oder? Könnten Sie davon ein bisschen ausführlicher erzählen?
V.B.: Was sind Endlagerungen? Das sind große Gruben.
V.N.: Naja…
V.B.: Gruben im Boden, wo die Technik war, die verstrahlte Technik, wo Hubschrauber waren und die Sondertechnik, Panzer und Busse und… Was ich selbst dort gemacht habe, heißt radiometrische Prospektierung. Das heißt, du bist in einem BRDM, das ist ein spezieller Wehrpanzerkraftwagen, und du registrierst radioaktive Werte an konkreten Stellen. Ein anderer Auftrag ist, mit einem Strahlenmessgerät Strahlungswerte bestimmter Stellen zu erfassen. Was noch? Na, also, außer des Radioschutzes und der Arbeit am AKW… Ich erinnere mich nicht mehr so gut daran. Meistens haben wir das gemacht.
V.N.: Hatten Sie irgendwelchen Schutz an? Wurden Sie umgezogen und gewaschen?
V.B.: Nein.
V.N.: Wurde Ihnen etwas Besonderes gegeben?
V.B.: Nein, nein. Wir wurden nicht umgezogen. Das Einzige, was wir hatten, waren Überziehschuhe und kleine weiße Atemschutzmasken, sie wurden „Blätter“ genannt.
V.N.: Nichts mehr also?
V.B.: Nein. Keine speziellen Kombis, keine Gummianzüge, wir hatten das nicht. Nachdem wir den Auftrag erfüllt hatten, zogen wir Überziehschuhe, Handschuhe und diese Atemschutzmasken aus, warfen sie weg und fuhren in die Einheit.
V.N.: In die Einheit? Das heißt, Sie wurden nicht umgezogen, oder?
V.B.: Nein.
V.N.: Wurde die Kleidung nicht gewechselt?
V.B.: Nein, wir nicht, vielleicht haben das die Anderen gemacht, aber wir nicht.
V.N.: Erinnern Sie sich an Ihre Eindrücke, als Sie nach Tschernobyl und zum AKW gekommen sind? Wurden Sie beeindruckt?
V.B.: Naja…
V.N.: Ihre ersten Eindrücke, als Sie dorthin kamen.
V.B.: Also, meine ersten Eindrücke…Vita, natürlich war das Spannung, psychologische Spannung. Man spürte Jod in der Luft, wie nach einem starken Gewitter, wissen Sie?
V.N.: Na klar.
V.B.: Und Aufregung, wissen Sie? Naja… Keine natürliche Aufregung, die man hat, wenn man erregt, betrunken ist oder sich ein Fußballspiel oder einen Ringduell anschaut. Nein, nicht solche Aufregung, sondern eine angstvolle Aufregung. Dann spürte ich physiologisch meine Haut brennen. Naja, also als ob ich Fieber hatte, aber meine Temperatur dabei nicht hoch war, und die Haut brannte. Und es war sehr schwer, Siedlungen, Dörfer, die Stadt Prypjat zu sehen, wo kein Mensch war. Naja, der Mensch ist ein soziales Wesen, er kommuniziert gern mit anderen, ja, er mag… ist es gewohnt, andere Menschen zu sehen. Da gab es außer Hunden, Raben und Militärs in Schutzanzügen gar keine Menschen. Alles, verstehen Sie? Also, das ist psychologisch sehr schwer, wenn man das sieht… und für mich war es sehr schwer. Ich war beauftragter Vertreter des technischen Kompagniekommandanten und zwei Kraftfahrzeugzüge unterstanden meinem Befehl. Einmal bekam ich den Auftrag, mit Hilfe unserer Wagen und Militärs Menschen aus der Zone zu evakuieren. Und wir kamen ins Dorf. Die Menschen, die da geboren wurden und lebten, packten ihr Hab und Gut ein, das Nötigste: Bettwäsche, einen Kühlschrank, einen Fernseher… alles, wofür sie viele Jahre gearbeitet haben. Die Militärs halfen ihnen damit LKWs zu beladen. Und es war wahnsinnig schwer zu beobachten, wie Frauen und Männer verzweifelt alles zu retten versuchten, was sie hatten. Ja, solche Aufträge sollten wir auch erfüllen.
V.N.: Sie waren in Prypjat, oder?
V.B.: Natürlich waren wir sowohl in Prypjat, als auch in anderen Dörfern, sowie in Tschernobyl… überall.
V.N.: Und welche Eindrücke haben Sie von Prypjat?
V.B.: (seufzt) Also, ich kann sagen, dass Prypjat früher eine Satellitenstadt mit einem sehr hohen Lebensniveau war. Die Menschen, die im AKW arbeiteten, haben gut verdient, und man glaubte, dass es sehr schwer war, dort eine Stelle zu bekommen und in diese Stadt umzuziehen zu können. Und es war so schwer, Prypjat, eine schöne Stadt mit guten Asphaltstraßen, in so einem Zustand zu sehen, dass da niemand außer Hunden und Raben war… Wissen Sie, was mich am meisten beeindruckt hat? Wie schnell einem die Stadt fremd wird, wenn es keinen Mensch gibt. Wissen Sie, der Wind treibt Müll durch die Straßen.
V.N.: Aha…
V.B.: Auf Schritt und Tritt gab es Müll und Papier… durch Wind getrieben. Dann Unkraut und viel Gras. Eigentlich muss ich sagen, dass, als ich in Tschernobyl war, habe ich mit meinem Personal Lehrveranstaltungen durchgeführt und ihnen Anweisungen gegeben, keine Äpfel und Birnen zu essen, keine Pilze zu sammeln (seufzt). Psychologisch ist der Mensch nicht bereit, die Strahlung so wahrzunehmen, wie er alles mit seinen fünf Sinnen wahrnimmt, er nimmt sie nicht wahr. Und dann sieht man einen Apfel, der so schön aussieht, dass man ihn natürlich sofort essen will. Im Unterricht für radiologischen Schutz schnitt ich gezielt einen Apfel auf, legte ihn auf den Bildschirm des Strahlenmessgerätes und zeigte ihnen, was innen war. Man sah mit seinen eigenen Augen die Werte von fünf bis sechs Röntgen, aber der Apfel sieht so lecker aus… Und die Pilze waren herrlich! Also wir wissen, dass Pilze Strahlung absorbieren. Das ging Äpfel, Birnen sowie Tomaten an, alles, was Menschen anbauten, wuchs so schnell, wie im Märchen, „ein vergifteter Apfel“, wissen Sie? So war es. Naja, was kann ich noch über Prypjat sagen? Na, schwere Eindrücke, natürlich. Da sah ich niemanden außer Militärs, Feuerlöschfahrzeuge, Militärtechnik. Nichts mehr.
V.N.: Sie haben gesagt, dass…
V.B.: Ich muss auch sagen, wie sehr mich das Knirschen beeindruckt hat. Ich bin gekommen, wir sind stehen geblieben, um die Strahlung zu messen, und die Kinderschaukeln haben so geknirscht, in der Stille war ein Knirschen zu hören… Ich drehte mich um und sah die Kinderschaukeln schwingen, aber es gab keine Kinder, der Kinderspielplatz war leer… Wir haben uns daran gewöhnt, dass auf Spielplätzen Kinder klettern, schreien, quarren, ihre Mütter sie beruhigen. Hier aber war es still, ein Karussell hat sich gewogen, Schaukeln schwangen und dieses Knirschen…
V.N.: Das war doch in Prypjat, oder?
V.B.: Ja, in Prypjat.
V.N.: Furchtbar…
V.B.: Naja…
V.N.: Sie haben gesagt, dass Sie zuerst in Oranoje abgestiegen sind, oder? Fuhren Sie dann nach Tschernobyl?
V.B.: Nein…
V.N.: Nein.
V.B.: …Wir waren immer in Oranoje.
V.N.: Die ganze Zeit?
V.B.: Die ganze Zeit in Oranoje.
V.N.: Also, welche Verhältnisse hatten Sie in der Einheit? Ich meine… Hatten Sie außergewöhnliche Situationen?
V.B.: Welche? Wir hatten viele außerplanmäßige Situationen.
V.N.: Wirklich?
V.B.: Natürlich. Alkohol, Alltagsleben, Prügeleien usw. Naja, das ist üblich. Die Sache ist, dass in die 25. Brigade Menschen aus der Volkswirtschaft einberufen wurden. Wer war das? Das waren die Männer, die ihre Frauen und ihre Arbeit verlassen sollten und für die Beseitigung der Folgen der Tschernobyl-Katastrophe eingesetzt wurden. Die meisten Menschen wussten nichts über die Ausstrahlung und ihren Einfluss auf den menschlichen Körper, nicht nur auf den menschlichen Körper, sondern auch auf die Umwelt, Bäume, Laub, Boden, Luft. Und wir, Offiziere, sollten immer Gespräche mit unseren Einheiten über die Strahlung, den Einfluss auf den menschlichen Körper führen und das Benehmen unserer Soldaten kontrollieren. Ehrlich gesagt verstanden die Menschen das nicht. Sie verstanden erst dann, wenn das Blut aus dem Hals entwich, und wenn sie sich schlecht fühlten. Und da die Ablösung bei uns sehr oft war, kam jeden Tag spät in der Nacht zu uns eine neue Rekrutierung, ich meine, die Menschen, die 25 Rem bekamen, wurden nach Hause geschickt, und neue Menschen kamen an Stelle ihrer. Meistens waren es Männer im Alter zwischen 30 oder 50 Jahre. Reife Männer, keine achtzehnjährigen Jungen, diese Männer waren weit von Zuhause, naja natürlich haben sie sich besoffen. Es gab keinen Wodka, aber die Einheimischen brachten Samohon (selbstgebrannter Wodka), man konnte natürlich nicht auf alle aufpassen, und da sah man schon einen Mann mit einem 3-Liter-Glas Samohon.
V.N.: Also, sie fanden Möglichkeiten…
V.B.: Und wo Wodka ist, sind auch Skandale, Prügeleien… Es ist vieles passiert. Naja, das ist schon üblich für Situationen, wenn sich viele Männer versammeln. Da sich unser Personalbestand sehr schnell änderte, gab es selten ernsthafte Konflikte. Das gehörte einfach zum Alltag. Die Männer waren sich ihrer Situation bewusst, erwachsen, ihnen war klar, dass sie nicht zum Tanzen hierher gekommen waren… Sie waren zur Umschulung einberufen, sie verstanden irgendwie… Viele, natürlich, hatten vorher in der Sowjetarmee gedient, sie verstanden etwas von Disziplin, Dienstordnung, Innendienst. Deshalb gab es keine großen Probleme.
V.N.: Also, Sie waren dort also länger als 2 Monate.
V.B.: Ja…
V.N.: Haben Sie sich manchmal erholen können? Also, hatten Sie die Möglichkeit, sich zu erholen?
V.B.: Na klar. Meinen Sie unter Erholung irgendwelche Ausflüge oder kulturelle Massenveranstaltungen?
V.N.: Beides. Womit haben Sie sich beschäftigt, hatten Sie Freizeit, sich mit anderen Sachen zu beschäftigen außer..?
V.B.: Naja, ich persönlich hatte keine Freizeit. Naja, manchmal schon, eine oder eineinhalb Stunden, das war für Gesundheitspflege, Wäsche, Hygiene gedacht, das hieß „meine Freizeit“. Kulturelle Massenveranstaltungen waren sehr gut organisiert. Serezha Chubenko war unser Politstellvertreter, er beschäftigte sich damit. Naja, das war auf der Ebene der 25. Brigade und des Verteidigungsministeriums beschlossen. Künstler kamen zu uns, in unserer 25. Brigade gab es einen Sommerplatz, auf dessen Bühne ukrainische Kollektive immer auftraten. Ich lernte sogar Bolotov kennen, als er Verse auf der Bühne vorgetragen hat, naja, er kam, trug Verse vor und ich war unter den Lesern, und nach dem Konzert unterhielten wir uns und lernten einander kennen. Tänzer und Sänger kamen, ich kann auch sagen, dass ich einmal nach Zelenyj Gaj fuhr, wo Alla Pugacheva (eine sehr bekannte sowjetische Sängerin) gesungen hat. Und noch dieser, wie war sein Name? Mein Gott, der Name ist mir entfallen… (singt ein Lie)
V.N.: Ich verstehe, über wen Sie sprechen, aber an den Namen kann ich mich auch nicht mehr erinnern…
V.B.: Ja, ich sag es später, wenn es mir einfällt. Das Konzert von Alla Pugacheva…
V.N.: Also waren Sie auf dem Konzert? Echt?
V.B.: Na klar. Verstehen Sie? Ich war dem Transport verbunden und führte meine Truppe… Sie können sich das vorstellen. ZIL 135, Wagenkasten bedeckt…
V.N.: Mit Plane…
V.B.: Ja, und in dem Anhänger befanden sich 30 Menschen. Es gab fünf oder sechs dieser Wägen, und ich sollte sie zu Zelenyj Gaj transportieren, da fand das Konzert statt, und zurückfahren. Naja. Ah… Kuzmin (der Name des Sängers)!
V.N.: Naja.
V.B.: Also, in diesem Konzert war ich. Das ist eine wichtige Erinnerung für mich, als ich Pugacheva und Kuzmin sah. Naja… Die Aufgabe jedes Offiziers ist, dass Militärs in keiner Schichteinteilung Freizeit haben, sich mit etwas beschäftigen. Also, Aufstehen, Apell, Frühstück… Wenn wir nicht zur Station fuhren, beschäftigten wir uns mit Technik, Aufräumen. Wir hatten viel zu tun, Bauen… Zuerst stellten wir Zelten auf, dann begannen wir, sie abzudämmen, Gerippe aus Holz zu machen, im September war ich demobilisiert, und sie begannen Holz-Gerippen zu machen, damit… Alle verstanden, dass sie in Zelten überwintern mussten. Man brachte Kanonenofen, dämmte Zelten ab. Und wir waren im Sommer da, bei Hitze und Sonne. Man sagte, dass spezielle Hubschrauber Wolken trieben, damit es nicht regnet. Naja. Wir durften lokales Waser nicht trinken, wir tranken nur zugeliefertes Wasser. Ich soll sagen, dass wir sehr gut versorgt waren. Wir tranken Borshomi, Jessentuki-Flaschenwasser.
V.N.: Aha.
V.B.: Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht, aber früher wurden 0,5 Liter Gläser gezielt hingebracht, damit wir das lokale Wasser nicht trinken. Die Verpflegung war wirklich großartig!
V.N.: Hatten Sie eine Feldküche oder einen Speiseraum?
V.B.: Zuerst gab es eine Feldküche. Später war ich in einer Abteilung von der Sicherungskompanie. Und es gab da einen Speiseraum für Offiziere und einen für die Soldaten. Außerdem hatten wir eine Sauna, einen Motor-Generator. Also, wenn eine Dienststelle aufgeschlagen wird, muss alles da sein und funktionieren: von der Toilette bis zum Bett, vom Speiseraum bis zum Wehrdienst, vom Stab bis zum Waffenzimmer. Das heißt, die autonome Einheit, die Elektrizität, Verpflegung, medizinische Versorgung gewährleistet, damit der Bestand den Auftrag erfüllen könnte, die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe beseitigen könnte.
V.N.: Und was die Medizin angeht, wurden eigene Proben während des Dienstes entnommen?
V.B.: Nein, Proben werden entnommen, wenn es irgendwelche Gründe dafür gibt. Was war das Wichtigste für uns? Die Strahlungskontrolle. Zwei Rem pro Tag und nicht mehr als 25. Wenn die Wirkung der radioaktiven Strahlung bei einem Menschen sichtbar wird, müssen sich die Mediziner einmischen. Was meine ich? Also, ich will jetzt keine Vorlesung halten. Ich glaube, Sie wissen, dass die radioaktive Strahlung alle inneren Gesundheitsprobleme eines Menschen ans Licht bringt. Nehmen wir an, dass ein 25-jähriger Mensch genetisch zur Geschwürerkrankung veranlagt ist, er kann also daran etwa mit 50-60 erkranken. Das heißt, im Alter von 25 ist sein Organismus stark genug, um die Krankheit zu verhindern. Aber die Bestrahlung tötet die Fähigkeit des Organismus, dagegen zu kämpfen, und er hat bald die Geschwürerkrankung oder er hat plötzlich eine Halsblutung. Ein normaler junger Mann, ein Soldat… und plötzlich Blut. Wir sind keine Mediziner, aber wir trafen gleich bestimmte Maßnahmen, und zwar schickten wir ihn in eine Sanitätskompanie. Und die Mediziner untersuchten ihn und machten bestimmte Proben.
V.N.: Gab es oft solche Situationen?
V.B.: Na klar. Es gab viele Situationen. Ohnmacht, Schwindelgefühl, Durchfall. Und nicht Ruhr, sondern Durchfall, Nasen- oder Halsblutungen. Ich auch… Nach Tschernobyl wurde ich am Magen operiert, ein Teil meines Magens wurde entfernt. Ich hatte auch Schmerzen, Blutungen. Sogar im Kot gab es Blut, bei den Proben wurde es festgestellt. Und als ich in Charkiw untersucht wurde, wurde bei mir eine Gewebeentnahme durchgeführt. Ich meine, mit Hilfe eines Gerätes wurde mir ein spezieller Schlauch in den Darm eingeführt, und wo es Geschwüre gibt, wurden Gewebeproben genommen, und zwar von der Schleimhaut, und mit der Schleimhaut lässt sich die Ursache der Entstehung des Geschwür bestimmen, und man kann die radioaktive Wirkung sehen. Ich meine, egal wie du dich schützt, dringt die Strahlung sowieso in deinen Organismus ein.
V.N.: Haben Sie versucht, sich irgendwie zu schützen oder vorsichtiger zu sein?
V.B.: Immer.
V.N.: Wirklich?
V.B.: Immer. Ich kann nicht sagen, dass ich mich zu sehr schützte, aber ich versuchte meinen Kontakt mit radioaktiven Stoffen zu beschränken. Aber die Sache ist, dass Oranoje geografisch außerhalb der 30-km-Zone lag. Und beim Betreten der Zone konnte man die Anweisungen sehen, dass man hier nichts trinken, nichts essen und nichts mitnehmen durfte. Weil eine schöne Sache, die sich dort befand, konnte stark kontaminiert sein. Ich weiß nicht, warum… aber es war so.
V.N.: Waren Sie dort sehr lange? Wann durften Sie zurückkommen?
V.B.: Als der Ersatz kam. Leider habe ich meinen Militärausweis nicht mitgenommen, dort gibt es einen Strahlungsausweis. Jeder Militär hat so ein Dokument. Ich war 23 Mal im AKW, das steht da.
V.N.: Ujujujuj!
V.B.: Ja, 23. Und im Militärstab war es so: Wenn man 25 Röntgen bekam, bereite man sich auf die Demobilisierung vor! Aber es gab keinen Ersatz und ich war die ganze Woche…
V.N.: Extra?
V.B.: Ja, ich war dort, in der Einheit, und ich wartete auf einen Offizier, der mich ersetzen musste. Als der Mann kam, wurde ich in den Militärstab eingeladen, ich habe alles unterschrieben und erklärte dem neuen Soldaten alles. Ich machte das und fuhr nach Charkiw. Als ich in Charkiw ankam, ging ich sofort zur medizinischen Radiologie.
V.N.: Sind Sie alleinzurückgefahren?
V.B.: Wie allein?
V.N.: Oder war Ihre Rückfahrt organisiert? (lacht)
V.B.: Sie war organisiert (lacht), weil die Zeit kam. Wiederum sammelte sich eine Anzahl der Menschen und man gab ihnen Dokumente, und man fuhr zusammen zurück. Ich kam an und begann gleich zu arbeiten. Ich arbeitete als Meister im Werk, wo Kältemaschinen produziert wurden. Eines Tages hatte ich eine Halsblutung und wurde ohnmächtig, direkt im Werk. Ich wurde mit dem Krankenwagen zur medizinischen Radiologie gebracht. Und in der medizinischen Radiologie lernte ich Tolja Gubarew 1986 kennen, wir lagen im selben Zimmer. Naja, er war damals jung, nicht so korpulent wie jetzt. Auch Andere waren da, Otarya Ostmanovitsch Beridse, aber er ist schon tot. Was kann ich noch euch erzählen?
V.N.: Und wie haben Ihre Mitmenschen, Verwandten auf Ihren Einsatz in Tschernobyl reagiert? Waren Sie damals schon verheiratet?
V.B.: Schlecht.
V.N.: Schlecht?
V.B.: Ja, das ist ein sehr schwieriges Thema. Meine Frau und ich haben uns scheiden lassen.
V.N.: Wegen Ihres Einsatzes?
V.B.: Ich kann nicht genau sagen, dass es wegen des Einsatzes war. (seufzt). Vielleicht war es alles zusammen. Die Leute hatten Angst vor dem Phänomen der radioaktiven Strahlung.
V.N.: Aha.
V.B.: Warum? Weil der Mensch wie alles andere die Quelle der Strahlung ist. Nicht ohne Grund hat man uns so lange in der medizinischen Radiologie behandelt, um die Menge der Strahlung, die sich im menschlichen Körper befindet, zu senken. Das sind ständige Infusionen, immer die Spülungen, um durch die Bewegung der Flüssigkeit im Blut die Radionuklide, die sich im menschlichen Körper angehäuft haben, abzuschwemmen. Na also. Das betrifft nicht nur Verwandte und Mitmenschen, sondern auch…
V.N.: Bekannte…
V.B.:… Bekannte, ja, die Menschen, die uns umgeben. Nicht alle haben Verständnis für diese Situation gezeigt und manche haben ihren Kontakt mit uns beschränkt, aber… Aber wir haben nicht aufegeben. Wir sind Tschernobyl-Betroffene, wir haben uns vereinigt, um jedem zu helfen, der unsere Hilfe brauchte. Ich muss gestehen, dass es sehr viele Probleme gab, die mit der Gesundheit von Tschernobyl-Betroffenen verbunden waren: Scheidungen, physiologische Probleme bei Männern, das gab es auch. Das ist wie immer, wie ein Lackmustest, der einen Menschen auf Anständigkeit, auf Menschlichkeit prüft. Das ist ein Beweis der Liebe und der Fähigkeit der Ehepartner für die Erhaltung der Familie etwas zu opfern. Wir haben dieses Thema angesprochen, wissen Sie es ist nicht gut, es ist ein schmerzhaftes Thema. Natürlich muss man darüber sprechen.
V.N.: Kann man sagen, dass vor der Tschernobyl-Katastrophe einige Dinge, die für Sie früher nicht wichtig waren, danach wichtig wurden? Hat sich nach dieser Periode etwas für Sie persönlich, in Ihrem Bewusstsein, in Ihrer Weltanschaltung, geändert?
V.B.: Nein. Haben wir noch Zeit?
V.N.: Ja, alles ist in Ordnung.
V.B.: Gut. Nein, Vita, nichts hat sich geändert. Also, was mich angeht, würde ich sagen, vielleicht klingt es ein bisschen pathetisch: Für mich wurde Tschernobyl so ein Zeitpunkt oder so eine Grenze, als sich mein Leben in drei Phasen teilte: vor der Tschernobyl-Katastrophe, während der Katastrophe und nach der Katastrophe. Vor der Tschernobyl-Katastrophe war mein Leben so sorglos. Also, ein junger Mensch in den besten Jahren, der seinem geliebten Beruf nachgeht, der eine Familie hat, der schon zwei Kinder hat – einen Sohn und eine Tochter, sie sind Zwillinge (der Sohn ist 15 Minuten älter als die Tochter). Wenn die Sonne scheint, wenn man eine Arbeit hat, wenn man einen guten Arbeitslohn hat, wenn der nächste Tag einem keine Sorgen macht und man weiß, dass es sich in einem Monat, und in einem Jahr, und in 20 Jahren nichts ändert, dann wird man ruhig arbeiten, danach in Rente gehen und versorgt sein. Und dann ereignete sich die Katastrophe. Ich (seufzt) habe bisher nie gefühlt, dass das Volk, die Heimat und der Staat mich so sehr brauchten. Jedes der 23 Male fuhr ich zum AKW mit so einem Gefühl, dass ich meinen Auftrag erfüllen muss, dass ich ihn ehrlich erfüllen muss, dass ich ihn richtig erfüllen muss, weil man das machen sollte. Und Tschernobyl war für mich „ein heller Fleck“ in meinem Leben. Und nach Tschernobyl kam eine andere Etappe, als ich begriff, dass wir verlassen wurden. Und da habe ich genau verstanden, dass man sehr wichtige Begriffe „Staat“ und „Volk“, „Vaterland“ und „Regierung“ differenzieren muss. Warum? Weil das, was ich machte, machte ich für die Heimat, und der Staat ist eine Maschine, die mich ausgenutzt und dann weggeworfen hat. Das betrifft nicht nur mich und andere Tschernobyl-Betroffene. Auch jetzt, 30 Jahre nach der Tschernobyl-Katastrophe, geht es weiter, mit diesen Flüchtlingen aus dem Donbas, mit diesen Soldaten, die an den ATO teilgenommen haben, die Behinderungen und Kriegsverletzungen bekommen haben. Das ist dasselbe. Diese Maschine, die alles aus den Leuten abschröpft und nichts dafür gibt. Lauter Versprechen. Sie hat uns verarscht und hat uns wie ausgenutztes Material weggeworfen. Selbst für mich wurde es klar, dass man das Volk und die Regierung nicht vermischen soll. Und was bedeutet das Vaterland? Das Vaterland ist …, ich glaube, alle anderen Männer stimmen mir zu, das Vaterland ist für mich die Familie, die Kinder, mein Haus, meine Straße, also all das heißt für mich Vaterland. Und ich bin bereit, diese Heimat mit aller Kraft zu verteidigen. Und der Staat ist das, was viel verspricht… Aber leider hat die Menschheit nichts anderes erfinden können, als bloß einen Mechanismus der Volksmassenverwaltung, der Unterdrückung dieser Volksmassen, leider ist es so.
V.N.: Kommen wir wieder zum Thema Tschernobyl zurück. Sie sagen, die Männer… Haben auch Frauen die Folgen der Katastrophe beseitigt? Ich meine, haben Sie im Laufe Ihres Einsatzes Frauen gesehen? Klar, dass sie dort waren …
V.B.: Frauen…(lacht)
V.N.: Was haben die gemacht?
V.B.: Frauen sehe ich immer. Wieso? Weil es schwierig ist, ohne Frauen zu leben. Ja, es gab Frauen, meistens waren sie Ärztinnen. In unserer Einheit gab es keine Frauen. Ärzte und Sanitäter in unserer Einheit waren Männer, und wenn ich zum AKW kam, sah ich viele Frauen. Das waren Telefonistinnen, die die Verbindung sicherten, Medizinarbeiterinnen. Da sah ich viele von ihnen, aber ich konnte sie nur fühlen. Wieso? Sie hatten Masken an, eine Kopfbedeckung auf, ich meine, ich fühlte die Frau, du sahst sie nicht.
Aber es gab viele Frauen. Nicht so viele wie Männer, aber sicher gab es Frauen. Ich kann nichts hinzufügen. Denn Krieg ist keine Frauensache, aber es gab Frauen allerdings.
V.N.: Pflegen Sie Umgang mit Dienstgenossen nach Ihrer Heimkehr, nach dieser Kommandierung?Stehen Sie mit ihnen in Kontakt?
V.B.: Nein.
V.N.: Nein.
V.B.: Ich stehe mit ihnen nicht in Kontakt. Gezielt. Ich will das nicht machen.
V.N.: Wieso?
V.B.: Weil die meisten Tschernobyl-Betroffenen Nörgler sind. Ich mag keine Nörgler. Was verstehe ich unter diesem Begriff? Das ist, wenn sich drei Tschernobyl-Betroffene treffen und über ihre Krankheiten und Probleme zu sprechen beginnen. Ich mag es, wenn sich Männer beim Treffen über die Arbeit, Alkohol oder die Jagd unterhalten. Und sie lenken sich so von ihren alltäglichen Problemen ab, sie weinen nicht, sie beschweren sich nicht. Das ist das erste Problem, warum ich mit anderen Tschernobyl-Betroffenen nicht kommuniziere. Das zweite Problem, genauer gesagt die zweite Ursache ist, dass die meisten Tschernobyl-Betroffenen sehr passiv sind. Man muss ihnen immer einen Schubs geben, ihnen Aufgaben stellen, sie überreden. Meistens sind sie… naja, verstehen Sie (seufzt). Kurz nach der Tschernobyl-Katastrophe begannen Menschen überall massenhaft krank zu werden, sehr schwer, sie hatten schwere Krankheiten, ihre Haare fielen aus, sie hatten Blutungen, wurden blind. Junge Menschen, sehr junge, und das passierte ihnen. Dann begann sich eine aktive Gruppe zu bilden, die gegen diese sozialmedizinische Ungerechtigkeit kämpfte. Die Ärzte bestätigten nicht die Verbindung zwischen unseren Krankheiten mit der radioaktiven Strahlung. Man sagte uns, es sei Schnupfen usw. Aber die Beamten, der Staat, sie können nicht gegen das Volk kämpfen, mit einem Menschen – schon, mit 10 Menschen sind sie bereit, alles aufzurollen, die Miliz oder die Polizei einzuladen und zu erpressen. Aber wenn das ganze Volk aufsteht, kann der Staat nicht kämpfen, er verliert diesen Krieg sowieso. Die Tschernobyl-Betroffen waren empört, wieso wird gelogen? Das war das Erste. Da Ärzte und Krankenschwestern sagten, dass wir alle Merkmale der Strahlenkrankheit hatten. Das sagte keine Markthändlerin, das sagten die Mediziner aus der medizinischen Radiologie, die sich schon seit vielen Jahren mit dem Thema Strahlung und Krebs beschäftigt haben. Verstehen Sie? Sie sagten: „Sie haben alle Merkmale der radioaktiven Bestrahlung.“ Und uns wurde gesagt: „Nein.“ Ich fragte: „Naja, ok, warum denn?“ Und nicht nur ich, sondern auch alle Tschernobyl-Betroffenen stellten diese Frage. Die Tschernobyl-Betroffenen setzten sich dafür ein. Sie organisierten Hungerstreiks, Demonstrationen, Proteste. Und diese massenhafte Bewegung ließ den Staat das Gesetz über Schutz der Rechte der Tschernobyl-Betroffenen verabschieden. Na ja, nach dieser Situation begann man uns (seufzt) die Erkrankungen zu bestätigen und hat uns etwas gegeben, man hat die Arbeitsunfähigkeit, die mit der Wirkung der ionisierenden Strahlung zusammenhing, bescheinigt. Also, ich nehme den Faden wieder auf: wieso ich…
V.N.: nicht kommuniziere…
V.B.: …mit Tschernobyl-Betroffenen nicht kommuniziere? Das ist kein Geheimnis, dass alles in unserem Leben auf Geld basiert. Wir brauchen Geld, um Kleidung, Medikamente oder Lebensmittel zu kaufen. Und wenn die Tschernobyl-Betroffenen eine höhere Rente im Vergleich zu anderen Menschen bekommen, kommt ein besonderer Mechanismus in Betrieb: Ich habe die Rente bekommen, jetzt muss ich schweigen, sonst kann man die zurücknehmen. Aber es gibt viele Tschernobyl-Betroffene, die keine hohe Rente bekommen. Das ist natürlich sozial unfair. Das wirkt sich auch psychologisch auf die Menschen aus. Aber solche Tschernobyl-Betroffenen kann man nicht mehr zum aktiven, sozialen Engagement motivieren. Verstehen Sie? Ich habe mit anderen Männern die Organisation „Sojus Tschernobyl“ gegründet und ich war der erste Vorsitzende dieser Organisation im Kominternowskij-Bezirk. Und ich kann viel über dieses psychologische Problem von Tschernobyl-Betroffenen erzählen, Vita. Leider sind Tschernobyl-Betroffene nicht so einig, wie man es will. Wenn sie einig wären und sich organisieren könnten, könnten sie alle Probleme lösen, von den lokalen bis auf die Bezirk-, Stadt-, Gebietsebene, und dann bis Kiew. So ein Problem haben wir.
V.N.: Also, das heißt, dass Sie sofort nach dem Einsatz in Tschernobyl mit den Tschernobyl-Betroffenen doch kommunizierten?
V.B.: Natürlich, ich arbeitete mit ihnen zusammen, ich kenne sie und sie kennen mich auch gut und respektieren mich, ehrlich gesagt. Und ich denke, mit Recht. Aber ich pflege mit Tschernobyl-Betroffenen keinen Kontakt, weil sie Nörgler und schwermütig sind. Na ja, wenn ich meinen Militärkollegen begegne, rede ich mit ihnen gerne. Aber das ist keine tiefe Kommunikation, sondern nur Small Talk, zum Beispiel „Hallo!“, „Wie geht’s dir?“, „Wie geht es deiner Familie?“, und das ist alles.
V.N.: Und wie lange haben Sie sich bei dieser Tschernobyl-Bewegung engagiert? Ich meine, wann haben Sie damit aufgehört?
V.B.: Im Jahre 1991.
V.N.: Haben Sie im Jahre 1991 damit aufgehört?
V.B.: Ja, im Jahre 1991, als ich mich selbständig machte, dann kommunizierte ich noch bisschen mit ihnen, und später habe ich damit aufgehört.
V.N.: Wie finden Sie die Ausflüge nach Prypjat, die jetzt sehr populär geworden sind, also in die Sperrzone?
V.B.: Ich finde es normal, Vita. Das ist Geld. Falls es wirtschaftlich zweckmäßig ist, können sie fahren. Das Einzige: Man soll sich selbst, der Umwelt, der Stadt nicht schaden, verstehen Sie? Wenn man Lust, Geld und Zeit hast, warum nicht? Ja, klar, ich wollte anfangen… Ich würde mit großem Vergnügen so eine Reise machen, also, im Dorf Orane ins Auto einsteigen und nach Tschernobyl zum Kraftwerk fahren, nach Prypjat, ja. Ich würde mich freuen, dorthin zu fahren, ja.
V.N.: Haben Sie denn keine Angst?
V.B.: Nein. Keine Angst. Die Sache ist, also, erstens würde ich sagen. Wir sind doch keine gebildeten Leute. Na, in welchem Sinne nicht gebildet? Nun, unterentwickelt vielleicht. Tja, das vermutlich habe ich hart gesagt, ja. Zum Beispiel, bei Japanern, bei Japanern ist es selbstverständlich, in der Tasche ein Kugelschreiber-Dosimeter zu tragen. Ich habe Geschichten gehört, von denen wir nicht wissen, ob sie wahr sind. Z. B., dass eine Delegation aus Japan in die Ukraine gekommen ist, und als sie aus dem Flugzeug aussteigen wollten, piepten ihre Strahlenmessgeräte, sie sind dann sofort wieder ins Flugzeug eingestiegen und zurückgeflogen. Es könnte sowohl ein Märchen oder ein Witz sein, schwer zu sagen. Aber wir sollten auch Strahlenmessgeräte haben. Wenn man für die eigene Gesundheit sorgt, muss man selbstverständlich so ein Gerät haben. Aber es ist Mentalitätssache. Weder ich noch Sie würden einen Finger ins heiße Wasser stecken, weil wir verstehen, dass es weh tun würde.
V.N.: Aber klar.
V.B.: Sie würden nie Ihren Finger unter den Hammer oder den Klotz legen – Sie wissen, dass man sich den Knochen brechen und den Finger verlieren würde. Der Mensch hat keinen Trieb, der ihn darüber informieren würde, dass er Strahlung ausgesetzt ist. Erst nach einiger Zeit, nach einigen Tagen oder einem Monat würde man es merken, erst nachdem man sich so schlecht fühlt. Da es solche Triebe nicht gibt, was sollen wir zu Hilfe nehmen? Die Technik – ein Strahlenmessgerät. Da haben Sie es, piept das Dosimeter, ist es ein Warnsignal. Achtung, da ist die Strahlung zu stark! Dann kann man darauf reagieren, woher die Strahlung kommt, wieso die kommt. Aber wir hatten das nicht. Bei uns, na ja, in der Sowjetunion wurden Zivilschutztrainings durchgeführt, aber die wurden mehr zum Schein durchgeführt. Z. B. heult die Sirene los - zum Bunker laufen, Lebensmittel mitnehmen, Wasser, Medikamente usw. Aber niemand wusste, was die Strahlung ist. Und die Menschen müssen darüber informiert werden. Man soll es von klein auf lernen, man sollte das an den Schulen erklären, den Kindern erzählen, verstehen Sie, was ich meine? Nicht nur den Kindern, auch den Jugendlichen. Ich bin sicher, dass Tschernobyl-Betroffene, vielleicht zusammen mit Medizinern oder Chemie- Dosimetristen (Fachleute, die Strahlung messen), die in der 25. Brigade für chemische Abwehr neben dem Flughafen sind, konkrete Vorlesungen durchführen sollten, bei denen erzählt wird, welchen Einfluss die Strahlung hat. Ich bin sicher, dass viele davon nichts wissen, sie haben gehört, dass es eine Katastrophe gab, naja, ihre Eltern erzählten davon, aber in Wirklichkeit wissen sie nichts.
Wir wissen auch jetzt nicht, wie viel Strahlung der Mensch bekommen darf. Zum Beispiel, früher waren es 20 Milliröntgen pro Stunde, dann stiegen die Normen. Ich weiß nicht und ich bin sicher, dass mein Sohn und meine Tochter es nicht wissen oder daran nicht denken. Aber man muss solche Vorlesungen halten. Man muss mit den jungen Leuten in Schulen, Berufsfachschulen, Universitäten und Wohnheimen sprechen, Teeabende machen. Ich war in Amerika und es hat mir sehr gut gefallen… Wie ist es bei uns? Auf einer Bühne tritt ein Redner auf, alle sitzen schweigend, man darf nicht lächeln, sich nicht umdrehen und nicht husten. In Amerika wurde das Essen auf Tischen serviert, nicht mit dem ersten und zweiten Gang, es gab kleine Vorspeisen, belegte Brötchen, Gebäck und Getränke.
V.N.: Tee und Kaffee…
V.B.: Menschen essen, kommunizieren, hören zu, tauschen sich aus. Ich meine, die Atmosphäre ist ungezwungen, und gleichzeitig gibt es einen Kontakt zwischen dem Referenten und den Hörern. So muss man arbeiten. Naja, das ist ein schwieriges Problem, womit man sich ganz genau beschäftigen soll.
V.N.: Wie finden Sie Veranstaltungen, die in der Ukraine stattfinden? In Bezug auf die Gedenkarbeit von Tschernobyl-Betroffenen. Naja, das findet bei uns zweimal pro Jahr statt, oder? Am 26. April und im Dezember.
V.B.: (lacht) Was meinen Sie? Naja, sowieso finde ich das ganz positiv.
V.N.: Ach so.
V.B.: Aber ich weiß, dass es zum Schein gemacht wird. Um der Tschernobyl- Betroffenen zu gedenken, muss man sich zweimal pro Jahr treffen, im April und spät im Herbst, im Winter, wenn man… Wir haben zwei Ereignisse, als sich die Explosion ereignet hatte und als der Sarkophag fertiggestellt wurde. Naja, es ist so, dass Tschernobyl-Betroffene…nicht nur Tschernobyl-Betroffene, sondern auch die Öffentlichkeit und die Regierung diese Daten anerkennen. Verstehen Sie? Also, es gibt zwei Daten. Man muss an diesen Tagen zusammen mit den Massenmedien der Opfern gedenken.
V.N.: Ja.
V.B.: Das ist traurig. Und da kommen 20, 30, vielleicht 50 Menschen. Sie sprechen, schreien und gehen dann weg. Einer geht saufen, ein anderer geht nach Hause, es ist im April, einige fahren auf die Datscha um im Garten arbeiten. Ich glaube, dass diese Maßnahmen formellen Charakter haben. Tolya Gubarev tritt auf, Bolotov trägt Gedichte vor, verstehen Sie, das ist alles, dann laufen alle auseinander. Und dann bleibt jeder für sich allein. Und Tschernobyl-Betroffene müssen das ganze Jahr beschäftigt sein. Und verstehen Sie, mit der Zeit vergisst man die Einzelheiten, und nicht nur ich, die Regierung hat die Katastrophe schon längst vergessen, und die Leute verschwinden allmählich… Jetzt sind andere Problemen aktueller. Die Probleme der Flüchtlinge , die Probleme der Soldaten, die sich jetzt im Kriegsgebiet befinden, ja das ist das Problem, weil der Staat wirtschaftlich und gesellschaftlich im Verfall ist, verstehen Sie, und Tschernobyl ist natürlich schon…
V.N.: in den Hintergrund getreten.
V.B.: Auch nicht in den Hintergrund, nein, noch weiter. Und an die Tschernobyl-Betroffenen erinnert man sich meistens bei lokalen oder regionalen Wahlen, um diese Gruppe auszunutzen. Und dann ist es für Politiker günstig, sie locken die dann mit irgendwelchen materiellen oder moralpsychologischen „Süßigkeiten“, damit sie ihre Stimmen für den einen oder den anderen Kandidat oder Partei abgeben. Aber das ist normal, muss ich sagen, das ist eine normale Situation. So arbeiten alle politischen Parteien in den ganzen Welt, so muss es sein, sie müssen die Menschen einbeziehen. Also, es gibt Teilnehmer des Einsatzes in Afghanistan, ATO-Teilnehmer, Madagaskarkriegsveteranen, Tschernobyl-Betroffene, man versammelt sie und sagt, dass sie das und das machen sollen! Das sind normale Gesetze des parteilichen und politischen Lebens. Hier soll die Initiative von Tschernobyl-Betroffenen ausgehen, na ja, Sie verstehen. Tschernobyl-Betroffene müssen jeden Tag an sich erinnern. Das kann sein, dass ich übertreibe, dass sie das jeden Tag machen müssen, aber sie müssen immer die Allgemeinheit in Evidenz halten.
(Pause für ein Telefongespräch. Die Fortsetzung des Gesprächs).
V.B.: Ihr Name ist Elena Yurievna, ihr Mädchenname ist Meszekova, und jetzt ist sie Bystritschenko, na ja. Wir haben uns dank Tschernobyl kennen gelernt. Sie arbeitete und arbeitet in der Poliklinik für Studierende Nr. 20, und da ist auch die Abteilung Tschernobyl-Betroffene. Und im Jahre 1991 hat man mich angerufen und mir gesagt, dass ich mit Bolotov nach Moskau zur Behandlung fahre und wir von den Ärzten begleitet würden. Also, wir zu dritt: ich, Bolotov und meine zukünftige Frau sind nach Moskau gefahren. Moskau wurde für uns der Ort, wo wir uns kennengelernt haben. An diese glückliche Zeit erinnere ich mich immer. Das war übrigens der 13. Januar, genau das „Alte Neujahr“ (ein Fest, Neujahr nach dem julianischen Kalender) vor 26 Jahren. Na also. Sie arbeitet weiter in diesem Krankenhaus, aber sie arbeitet jetzt nicht in der stationären Abteilung, sondern in der Poliklinik und sie leitet jetzt die therapeutische Abteilung. Wir leben ganz gut, wir haben auch einen Sohn. Er ist schon 23 Jahre alt. Er ist Eleve der Militärschule, jetzt heißt sie „Universität der Nationalgarde“. Momentan ist er im Militärlager in Pisarewka, er studiert im dritten Studienjahr, er muss noch anderthalb Jahre studieren, um Offizier zu werden. Ich liebe sie sehr. Aber vielleicht sind es keine passenden Worte. Jetzt ist es das Gefühl, es hat sich entwickelt, ich würde es so sagen, dass ich mir mich ohne sie nicht vorstellen kann. Das ist, wissen Sie, so eine Verbindung von Gefühlen wie Respekt, Zärtlichkeit und Verständnis. Ich kann mir mich ohne sie nicht vorstellen. Wir beenden unser Gespräch mit so einem interessanten Thema, Vita. Wir reden schweigend.
V.N.: Sie meinen, dass Sie sich mit Ihrer Frau ohne Worte verstehen, stimmt?
V.B.: Genau, ohne Worte, wir verstehen uns mit dem Blick, einer flüchtigen Schulterbewegung, Lippen, Mimik, sogar durch eine Handbewegung, wir verstehen uns richtig gut. Wir kommunizieren nur, weil wir irgendeine emotionale Verbindung brauchen, weil die Worte… Zusammen mit Worten äußern wir Emotionen, sie können positiv und negativ sein, das ist natürlich für einen Menschen, deswegen redet man, um Informationen zu geben. Das ist die Kommunikationsebene, wenn man einander versteht, aber die höchste Ebene ist wortlose Kommunikation.
V.N.: Sehen Sie, wie schön!
V.B.: Ja, wortlos. Wir verstehen uns wunderbar, wir fühlen uns, sogar bei einer Entfernung, intuitiv, also auf der Alpha-Ebene. Ich glaube, dass Tschernobyl mir dieses Geschenk gemacht hat.
V.N.: Ein Geschenk des Schicksals?
V.B.: Ja und ich.. ich wollte, ich sage ihr, ich möchte mit dir sterben. Ja, weil ich überzeugt bin, dass der Tod die höchste Berufung des Menschen ist. Sie verstehen, also, auf die Welt zu kommen und zu sterben. Diese... Der Tod ist der Höhepunkt des Menschenlebens. Ja, ja…
(Eklingelt an der Tür.)
V.N.: Achten Sie nicht darauf (er lacht).
V.B.: Hat es bei uns geklingelt?
V.N.: Nein.
V.B.: Deswegen sage ich, dass ich mit ihr sterben möchte.
V.N.: Das ist wie im Märchen! Nun, wunderschön, dass…
V.B.: Na, also ich bin ihr sehr dankbar…
V.N.: Es gibt solche Beziehungen!
V.B.: Ich bin ihr dankbar dafür, dass sie mich unterstützt, sowohl als Frau, als auch als Ärztin, die Tschernobyl-Betroffene behandelt hat. Wenn ich ein Problem mit meiner Gesundheit habe, fühlt sie das, und sie mischt sich sofort ein, sie fängt mit der Behandlung an, bevor sich die Krankheit entwickelt. Sie kennt mich seit 26 Jahren, ich bin für sie ein offenes Buch, sie weiß alles über mich, und dank ihrer Hilfe bin ich immer noch am Leben. (lacht)
V.N.: Ok, und die letzte Frage…
V.B.: Ja.
V.N.: Was meinen Sie, was genau von der Tschernobyl-Katastrophe nicht vergessen werden darf, was sollte man der neuen Generation, die schon nach der Katastrophe geboren wurde, erzählen?
V.B.: Na ja, hier kann man nicht kurz antworten. Erstens muss man die menschliche Blödheit, das menschliche Versagen nicht vergessen. Vita, Sie sind noch jung, das Leben steht Ihnen noch bevor und Sie wissen besser als ich, welche Rolle heutzutage Technologien im Menschenleben spielen. Alles ist so technologisiert, im Verkehr, Verbindung und Produktion, alles ist so technologisiert. Und der Mensch macht sich Sorgen, dass dieser Computer nicht explodiert, dass sich der Drucker nicht in Brand setzt. Man muss respektvoll mit der Umwelt umgehen. Obwohl die Tschernobyl-Katastrophe zu den technogenen zählt, war ihr Grund das menschliche Versagen, weil die Menschen ein Experiment durchführen wollten. Ich glaube, Sie wissen, was dort geschehen ist, weswegen sich die Explosion ereignet hat. Ich bin zum Beispiel überzeugt, und andere Tschernobyl-Betroffene sind es auch, dass das alles Menschenversagen war. Das geht auch Flugzeuge, Züge, Fahrer an, die mit einer extrem hohen Geschwindigkeit fahren und Menschen überfahren, all das ist menschliches Versagen. Der Mensch sollte klüger werden. Das ist das Erste. Was muss man noch von Tschernobyl nicht vergessen? Ich würde sagen, die Fähigkeit Opfer zu bringen für seine Verwandten, Mitmenschen. Das betrifft sowohl die Feuermänner, die das Feuer gelöscht haben, als auch die Mitarbeiter des AKWs, das betrifft Tschernobyl-Betroffene, die gestorben oder krank sind. Man sollte nicht vergessen, dass die Leute zur Selbstaufopferung bereit sind, um das Vaterland, die Verwandten, Mitmenschen vor Gefahr zu retten. Und das Dritte. Beim dritten Punkt geht es darum, dass unsere Erde, unsere Natur sehr empfindlich, sehr sensibel dazu sind, was der Mensch macht. Das betrifft nicht nur die Tschernobyl-Katastrophe, sondern auch alle Aspekte der menschlichen Tätigkeit. Was der Mensch auch macht, richtet in der Natur Schaden an. Deswegen darf man das nicht vergessen und sorgsam und aufmerksam mit der Natur umgehen, weil wir keinen anderen Weg haben. Na ja, wir können nur auf den Mars fliegen.
V.N.: Danke!
V.B.: Es war sehr angenehm mit Ihnen zu sprechen. Ehrlich gesagt habe ich schon lange nicht mehr so detailliert und aufrichtig über das Tschernobyl-Themagesprochen. Deswegen sage ich Ihnen vielen Dank für alles!
V.N.: Vielen Dank!