Liquidatoren

Liquidatoren

Insgesamt waren etwa 600.000 bis 800.000 Menschen zwischen 1986 und 1989 zu Katastrophenschutzmaßnahmen in der Tschernobyl-Sperrzone eingesetzt, davon etwa 300.000 in den ersten Jahren nach der Katastrophe. Die genaue Zahl der als „Liquidatoren“ bezeichneten Rettungsarbeiter ist unbekannt, da keine exakte Erfassung erfolgte und ein einheitliches Register erst Jahre später erstellt wurde. Mit der Auflösung der Sowjetunion fanden sich die Liquidatoren zudem in unterschiedlichen Staaten wieder.

Die Liquidatoren wurden in die Tschernobyl-Sperrzone geschickt, um mit vollkommen unzulänglichen Mitteln die radioaktive Strahlung zu bekämpfen. So entfernten sie z.B. mit Schaufeln Schuttteile vom Dach des zerstörten Reaktors – eine Aufgabe, die eigentlich Roboter hätten ausüben sollen, die jedoch wegen der hohen Strahlung den Dienst versagten. Wegen solcher Einsätze wurden die Liquidatoren daher auch „Bioroboter“ genannt.

Die meisten Liquidatoren waren junge Soldaten, die aus der Reserve eingezogen wurden. Doch auch zahlreiche andere Berufsgruppen, wie Bauarbeiter, Ingenieure, Ärzte und Köche u.a., waren in der Sperrzone tätig. Sie trugen beispielsweise kilometerweise Erdboden ab, wuschen Häuser und Fahrzeuge, vergruben radioaktiv verstrahlte Technik oder machten Jagd auf herrenlos gewordene, streunende Haustiere. Zudem mussten Unterbringung, Verpflegung, Reinigung etc. für die Rettungshelfer gewährleistet werden.

Nach unterschiedlichen Angaben sind bereits mehrere zehntausende Liquidatoren aufgrund von einsatzbedingten Erkrankungen verstorben. Zum 1. Januar 2016 lebten in der Ukraine noch etwa 210.000 Liquidatoren, davon knapp 15.000 in Charkiw. Die meisten von ihnen sind nach ihrem Einsatz in Tschernobyl schwer erkrankt und haben ihren eigentlichen Beruf aufgeben müssen. Etwa ein Viertel von ihnen hat eine offiziell als Tschernobyl-bedingt anerkannte Behinderung. Viele Liquidatoren leben heute am Rande des Existenzminimums und sind gesellschaftlich isoliert. Dies gilt in noch stärkerem Maße für die Witwen der bereits verstorbenen Liquidatoren. Nur etwa 35.000 von ihnen erhalten soziale Unterstützung, da der Tod ihres Ehemannes als Tschernobyl-bedingt eingestuft wurde. Dabei müssen die Liquidatoren zu Recht als die Retter Europas betrachtet werden. Denn ohne ihren selbstlosen Einsatz, mit dem sie ihr Leben und ihre Gesundheit riskierten, wären die Tschernobyl-Folgen in allen europäischen Ländern wesentlich schlimmer ausgefallen.

Zu den zentralen Zielen der Geschichtswerkstatt Tschernobyl gehört es daher, dass die Liquidatoren die ihnen gebührende öffentliche Anerkennung erhalten. Dies versucht sie zum einen durch öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen im Umfeld der Tschernobyl-Jahrestage zu erreichen. Ein besonderer Höhepunkt war dabei die Teilnahme einer Gruppe von Liquidatoren an einer Papstaudienz in Rom anlässlich des 30. Jahrestags der Tschernobyl-Katastrophe. Zentral für eine lebendige Erinnerungskultur ist jedoch die Anerkennung im Alltag. Besonders wichtig sind in dieser Hinsicht Begegnungen mit jungen Menschen, die sich für ihre Lebensgeschichte interessieren. Aus diesem Grunde nehmen Zeitzeugengespräche einen zentralen Platz in der Arbeit der Geschichtswerkstatt Tschernobyl ein.

Hier gelangen Sie zum Zeitzeugenarchiv mit den Lebensgeschichten zahlreicher Liquidatoren.

Geschichten von Liquidatoren: