Valerii
Valerii
- Liquidator
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Die Zeit, in der Tschernobyl-Zone :
Nataliia Kozlova (nachfolgend kurz „N.K.“ genannt): Also, heute haben wir den 13. Mai 2015. Wir sind im Raum des „Verbandes Tschernobyl“ und ich, Kozlova, Nataliia, interviewe gerade Herrn – stellen Sie sich bitte vor - …
Valerii Derkach (nachfolgend kurz „V.D.“ genannt): Derkach, Valerii Petrovich.
N.K.: Sehr angenehm nochmal. Also, meine erste Frage an Sie, die ist ziemlich umfassend, und es ist eigentlich eine Frage und eine Bitte zugleich. Ich bitte Sie, die Geschichte Ihres Lebens zu erzählen, mindestens das, was Sie selber für relevant halten.
V.D.: Also die Geschichte meines Lebens unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von den Lebensgeschichten anderer Menschen. Ich bin 1960 geboren. Meine Geburt ist auf eine bestimmte Weise mit der Oktoberrevolution verbunden, ich bin nämlich am 8. Oktober geboren. Also das Datum hat, glaube ich, meinen Charakter einigermaßen beeinflusst. Der ist sozusagen auch einigermaßen revolutionär.
N.K.: Echt?
V.D.: Echt. Ich bin also in einer kinderreichen Familie im Dorf Schariwka, Rayon Bohoduhiw, aufgewachsen. Dort absolvierte ich die Achtklassenschule und ging danach an die Radiotechnische Berufsschule Charkiw. Gleich nach dem Abschluss wurde ich zum Wehrdienst einberufen. Den musste ich zwar bei einem Milizbataillon in Charkiw leisten, aber von den zwei Jahren[1] verbrachte ich ein halbes Jahr in Solotschew, Oblast Lwiw, wo ich die Unteroffizierschule besuchte. Danach leistete ich anderthalb Jahre in Charkiw den eigentlichen Wehrdienst. Was den Wehrdienst angeht, so kann ich Ihnen sagen, dass es reine Glückssache war, und zwar nicht in dem Sinne, dass ich den in Charkiw leisten musste. Damals war es vielleicht nicht erniedrigend, sondern es lag sozusagen nicht im Trend.
N.K.: Wieso denn?
V.D.: Na, sehen Sie… Nehmen wir zum Beispiel meine Mitschüler, meine Freunde aus der Berufsschule: Dieser leistet den Wehrdienst an der Kuschka[2], jener im Fernen Osten oder im Ural[3]. Schön romantisch, ne?
N.K.: Aha, klar.
V.D.: Und ich blieb in Charkiw. Meine Altersgenossen und ich leisteten den Wehrdienst zur gleichen Zeit, und die hackten auf mich in ihren Briefen herum: „Was weißt du etwa von der Armee? Du Warmduscher leistest den Wehrdienst im eigenen Gemüsegarten!“
N.K.: Ach so.
V.D.: Na ja, ja, so war es halt.
N.K.: Mannomann!
V.D.: Doch ich hatte wirklich Glück. Erstens war man 12 Stunden täglich im Einsatz, in der Stadt. So fühlte man sich von der Gesellschaft nicht isoliert. Andererseits zeigten uns sowohl die Milizuniform als auch die Art und der Bereich des Dienstes das Leben von der anderen Seite. Genauer gesagt, betrachtete man das alles schon ganz anders, ohne rosarote Brille, ohne Optimismus und Romantik.
N.K.: Ach du meine Güte!
V.D.: Denn es war dabei alles gewissermaßen mit der Verletzung der öffentlichen Ordnung und mit der Kriminalität verbunden, umso mehr, dass ich in der schnellen Eingreifeinheit diente. Wir beteiligten uns an der Festnahme entwichener Verbrecher, wir nahmen Verbrecher selber fest. Wir suchten einmal nach einem gekidnappten Kind, das später gefunden wurde, aber leider schon vergewaltigt und tot war. Es war in Solonizewka[4]. Na, wenn wir schon von unangenehmen Momenten sprechen, so gab es, glaube ich, im Jahr 1980, am 30. April, also am Vorabend des ersten Mai, in der Stadt Karbonit, Oblast Luhansk, in einem der Bergwerke eine Explosion – und das zur Zeit… also die Explosion erfolgte zu der Zeit, da die eine Schicht ins Bergwerk musste und die andere auf denselben Aufzug wartete, um nach oben zu gelangen. Es geschah also zur Zeit des Schichtwechsels. Die Voice of Amerika[5] meldete damals, es seien zwei Schichten Bergarbeiter ums Leben gekommen. Aber zum Glück ging der Bus kaputt, mit dem …
N.K.: …mit dem die Bergarbeiter von der anderen Schicht zur Arbeit fuhren?
V.D.: Genau. Da ging etwas kaputt, und der kam mit 20 Minuten Verspätung.
N.K.: Gott sei Dank blieben die Menschen am Leben.
V.D.: Na ja. Doch 67 oder 68 Menschen kamen ums Leben. Und wir wurden damals alarmiert, um bei den Beerdigungen die Sicherheit zu gewährleisten. Na ja, es war also einigermaßen vorteilhaft, dass wir, wie gesagt, von der Gesellschaft nicht isoliert wurden, wir beteiligten uns an der Sicherung der öffentlichen Ordnung bei fast allen Veranstaltungen, die in der Stadt stattfanden, - Demonstrationen, Fußballspielen …
N.K.: Sie haben sich also alle Fußballspiele angesehen?
V.D.: Aber natürlich. Es ist eigentlich dem Sport zu verdanken, dass ich in Charkiw, im Bataillon, den Wehrdienst leistete. Als ich einberufen wurde, war ich schon Sportmeisterkandidat im Biathlon.
N.K.: Heißt das also, dass Sie den Sport auch vor dem Wehrdienst getrieben hatten?
V.D.: Genau.
N.K.: Ach du meine Güte!
V.D.: Als Biathlet nahm ich an Crossläufen und verschiedenartigen Schießsportwettbewerben teil. Fußball spielte ich auch; seit dem 11. Lebensjahr spielte ich schon in einer Erwachsenenmannschaft.
N.K.: Toll!
V.D.: Na ja. Es versteht sich, dass… ich würde nicht sagen 99 Prozent…aber 98 Prozent junger Männer, die das Milizbataillon hinter sich hatten, bei der Miliz[6] eingestellt wurden. Dieses Schicksal widerfuhr mir auch. Zuerst arbeitete ich als Fahrer beim Einsatz- und Streifendienst. Im Frühling kündigte ich und wurde an der Milizschule Lwiw als Fernstudent immatrikuliert. Danach arbeitete ich in einer Suchgruppe, aber damals wurde alles für geheim erklärt, und es gab also keine selbstständige Einheit, die… genauer gesagt…
N.K.: Sie können sich gerne ein Glas Wasser holen, wenn Sie möchten.
V.D.: …die sich unmittelbar mit Taschendieben befassen würde. Andererseits hat solch eine Einheit eigene Spezifik, weil die Taschendiebe ganz spezifische Diebe an sich sind. Diese Leute sind gut vorbereitet.
N.K.: So was wie Gaukler?
V.D.: Na ja, einigermaßen sind sie Gaukler. Dazu haben sie alle ihre eigenen Arbeitsmethoden. Normalerweise arbeitet kein Taschendieb allein. Und es versteht sich von selbst, dass es ziemlich schwierig ist, die [Taschendiebe] zu bekämpfen, doch unmöglich ist es allerdings nicht. So ist das. Nach dem Milizschulabschluss arbeitete ich als Inspektor. Und 1986 führte mich mein Weg nach Tschernobyl.
N.K.: Aha.
V.D.: Natürlich konnte ich die Eindrücke, die ich damals bekam, mit nichts vergleichen. Am 23. April, 29 Jahre danach, kam ich wieder nach Tschernobyl, schon als Vorsitzender eines eingetragenen Vereins. Das Hauptziel meiner Reise war – es ist mir nicht bange, so etwas zu behaupten, denken Sie bitte nicht, dass ich mir selber irgendwelche Titel oder Orden verleihe – eines der Hauptziele meiner Reise, wofür ich keine Reklame machte und das ich nirgendwo erläuterte, war es, Gedenktage festzulegen. So bedauernswert, so traurig es auch ist, verlassen die Menschen diese Welt. Wir müssen also das Andenken an sie verewigen. Wir leben doch auch nicht ewig. Und es sollte so etwas in elektronischer und gedruckter Form und so weiter existieren und aufbewahrt werden. Es wurde Einiges schon selbstgemacht. Na ja, es wäre vielleicht ein bisschen zu viel, so etwas das „Buch“ zu nennen, aber ein Prospekt ist es allerdings. 21 A4-Blätter. Die Titelseite wurde mit PhotoShop erstellt. Die nächsten 20 Seiten enthalten die Namen von 130 verstorbenen Blutsbrüdern… oder wie sagt man es noch… Landsleute, Blutsbruder. Natürlich hat dieses Buch Nachteile. Ich meine, es muss nachbearbeitet werden, und man bräuchte dafür Zeit und Information. Wir leben doch im 21. Jahrhundert, und es ist schon irgendwie komisch, den Familiennamen, den Vornamen und den Vatersnamen eines Menschen zu kennen, ohne zu wissen, wann er geboren und gestorben ist, geschweige davon, in welchem Ort er geboren ist. Es sollte also mindestens angegeben werden, wo der Mensch geboren ist und zur Schule ging. So was wie eine Bibel sollte dieses Buch natürlich nicht sein, doch es muss es in jeder Schule…
N.K.: Aha.
V.D.: …in jeder Schule, in jedem Dorfrat geben. Ich glaube, es muss Bücher geben, die Menschen gesehen und gelesen haben sollten. Denn bei unserem wilden, hektischen Leben sind nicht einmal die Dorfbewohner ziemlich oft im Bilde, dass ihr Nachbar seine Gesundheit geopfert hat. Geschweige davon, wie viele Schicksale zunichte gemacht wurden. Na, ich zum Beispiel. Mit 28 Jahren wurde ich als Behinderter Kategorie 3 anerkannt. Ich verließ die Verwaltung mit diesem Behindertenausweis, im Bewusstsein, dass zwei Kinder auf mich zu Hause warten.
N.K.: Sie hatten also damals Kinder und waren verheiratet?
V.D.: Stimmt.
N.K.: Und wie kam es dazu, dass Sie dorthin geschickt wurden? Wie geschah das alles? Können Sie sich daran erinnern?
V.D.: Wie? Und wie geschahen damals viele Dinge? Es wurde nicht räsoniert. Ich möchte niemanden beleidigen. Aber Sie haben wohl selber von dieser Bewegung gehört. Die Wehrdienstpflichtigen sind so hysterisch, die machen so viel Theater. Ich beispielsweise kann so etwas überhaupt nicht verstehen. Und die Wehrpflichtigen verstehe ich auch nicht. Die Gefühle ihrer Eltern schon… Aber ich habe selber ein Kind, einen Sohn, der ist 33 und auch wehrdienstpflichtig. Na und? Wird es einen Befehl geben, so wird man ihm nachkommen müssen.
N.K.: Es kam also damals ein Befehl, stimmt das?
V.D.: Ja.
N.K.: Und Sie gingen einfach ordnungsgemäß dorthin?
V.D.: Natürlich.
N.K.: Es ist für mich bloß interessant, wie das alles damals geschah?
V.D.: Aus Tschuhujiw, aus Tschuhujiw, aus Tschuhujiw flogen wir nach Kyjiw, und dann aus Kyjiw nach Bila Zerkwa. Oder doch: Aus Tschuhujiw flogen wir nach Bila Zerkwa, und dann aus Bila Zerkwa wurden wir mit Wagen nach Orane[7] gebracht.
N.K.: Und haben Sie gewusst… Ach, ich bitte um Entschuldigung.
V.D.: Haben wir gewusst – was?
N.K.: Wohin Sie fahren? Wurden Sie über den Stand der Dinge aufgeklärt?
V.D.: Na ja.
N.K.: Sie erhielten also bestimmte Vorschriften?
V.D.: Na klar.
N.K.: Wirklich?
V.D.: Bestimmte Ziele, Aufgaben und so weiter und so fort. Mindestens ich persönlich…
N.K.: Sie ahnten also, was die radioaktive Strahlung ist, was das für Sie bedeuten kann? Das wussten Sie also? Ob sich die Menschen, die mit Ihnen dorthin fuhren, der Sache bewusst waren, wohin sie gehen und womit sie bald konfrontiert werden müssen?
V.D.: Ich glaube, schon. So schlimm die Sowjetmacht auch war, so viele Nachteile sie auch hatte, von den Vorteilen werde ich jetzt nicht reden, denn es ist jetzt angesagt, nur von den Nachteilen des Lebens in der Sowjetunion zu sprechen...
N.K.: Ist aber nicht wichtig.
V.D.: …aber damals hatte jeder Sieben- oder Achtklässler, geschweige von Neun- und Zehnklässlern, eine Vorstellung davon, dass es eine nukleare Explosion geben kann. Und jeder Mensch wusste, welche Körperseite er ihr dabei zudrehen soll… Na ja, so was wusste man natürlich. Es wurde damals zwar wenig über die Folgen gesprochen, es ging meist um Wirkungsfaktoren. Doch über die Folgen der radioaktiven Strahlungseinwirkung, wie gesagt…
N.K.: Also…
V.D.: …nur ganz, ganz wenige wussten was davon. Es konnte niemand ahnen, dass man mit 28 Jahren in eine kurzfristige Ohnmacht fallen kann und so weiter und so fort. Manche, wie ich zum Beispiel, hielten es geheim, dass es dort gefährlich ist, dass… Na ja, ich hatte sowieso ein Ziel. Ist auch klar: Ich war damals 27 und Oberleutnant, freute mich schon auf den Kapitänsrang. Da wird man plötzlich mit dem Gewehr beim Dienst ohnmächtig.
N.K.: Geschah es dort?
V.D.: Ne, in Charkiw.
N.K.: Aha, klar.
V.D.: Na, und da begann es…
N.K.: Mannomann!
V.D.: …ich musste mich bei vielen Krankenhäuser vorstellen und so weiter und so fort.
N.K.: Sagen Sie bitte, welche Daten…
V.D.: Aber ich hab, ich hab doch meinem Gedanken noch nicht fertig.
N.K.: Ja.
V.D.: Ich hab meinen Gedanken noch nicht zu Ende gebracht.
N.K.: Ich habe gedacht, dass Sie schon… Entschuldigung.
V.D.: Ich wollte eben sagen, dass es damals keine fiesen Gespräche gab: sich verstecken, davon laufen, jemand reinlegen… Verstehen Sie wohl, was ich meine? Heutzutage… na ja… Es handelt sich um Krieg. Aber man sollte ja schließlich darüber Klarheit schaffen und die Dinge beim rechten Namen nennen. Aus denen – was weiß ich – 20 000 oder 30 000 Menschen, die in der sogenannten Anti-Terror-Operation eingesetzt sind. Doch an Kampfhandlungen, an den kriegerischen Auseinandersetzungen… nehmen etwa 7 bis 8… höchstens 10 Prozent teil. Deshalb verstehe ich die Regierung und die Angestellten der Militärkommissariate[8] nicht, die ständig auf der Jagd nach jungen Männern sind. Angenommen man hat einen Militärausweis, und es steht dort schwarz auf weiß geschrieben, dass man Fahrer oder Schütze ist. Ok, dann ist man eben Fahrer. Na ja, irgendwann bekommt man ein Sturmgewehr, eine Schutzweste, doch den Krieg erlebst du, metaphorisch gesagt, nicht mit. Jemand muss doch Wasser, Brot, Brennholz, Kohle und so weiter und so fort heranschaffen. Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.
N.K.: Zurück an die Tschernobyler Ereignisse. Sagen Sie bitte, welche Arbeiten führten Sie aus, welche Аufgaben mussten sie erfüllen? Was sollten Sie tun? Wenn das natürlich kein Geheimnis ist. Wenn es Informationen gibt, die für geheim erklärt sind …
V.D.: Alles, alles darf ich Ihnen ja nicht verraten.
N.K.: Ok, dann erzählen Sie eben das, was Sie erzählen dürfen.
V.D.: Also was ich erzählen kann. Ich war abkommandiert und war eigentlich nicht allein abkommandiert, sondern wir waren zu viert zu einer Einheit abkommandiert, die für die Reparaturen rollender… rollender Technik zuständig war. Dazu aber … (das Handy klingelt).
N.K.: Soll ich pausieren? (Pause) Ok, wieder eingeschaltet.
V.D.: Die Einheit befasste sich also mit den Reparaturen rollender Technik. Was die Tätigkeit der Einheit und den Grund, warum ich in einer solchen Brigaden landete, anbetrifft… Die Einheit befasste sich mit den Reparaturen der Technik, die man außerhalb der Grenzen der 30-Kilometer-Zone entweder aus technischen Gründen, oder wegen der Kontamination nicht bringen durfte. So musste man sogar Hinterachsen, Motoren, Schaltgetriebe dort ersetzen, wo das Fahrzeug steht. Im Staub, im Schmutz, beim Schnee, ohne Kraftheber, ohne Grube, ohne Aufzugwinden. Na ja, mechanische Anlagen und Handgeräte gab es trotzdem. Sonst erfolgte alles unter extremen Bedingungen. Zu jener Technik gehörten meistenteils Betontransporter, die Beton aus Lelew zur Station lieferten. Und die Einheiten, die dort waren… also die mobilen Einheiten, die rund um die Station waren, waren einigermaßen auch…
N.K.: Auch dabei eingesetzt.
V.D.: Auch eingesetzt, und wir hatten mit den damit verbundenen Reparaturen zu tun. Für den Betrieb waren wir zwar nicht zuständig, aber für die Reparaturen – doch. Und es ist mir eigentlich angenehm, mich daran zu erinnern. Denken Sie bitte nicht, dass ich damit protze, Natascha.
N.K.: Sie können ja gerne protzen, das ist eben wichtig!
V.D.: Mein Sohn ist schon zwar schon ziemlich erwachsen und hat seinen eigenen Sohn, meinen Enkel, aber immer noch fasst er mit Samthandschuhen die Zeitung „Wetschernij Charkow“[9] an. Die vom 29. November 1986. Es gibt darin nämlich einen kleinen Artikel über mich.
N.K.: Und hier ist etwas über Sie geschrieben?
V.D.: Ja, ja, ja.
N.K.: Klar.
V.D.: Der Artikel heißt: „Dort, wo unser Landsmann dem Volk dient“.
N.K.: Ach so!
V.D.: Die Zeitung ist schon natürlich vergilbt und sieht ziemlich abgerissen aus. Aber was ich sagen will, ist, dass mein Sohn die wie ein rohes Ei behandelt. Einmal habe ich mich verplaudert und wurde gebeten, den Artikel einer lokalen Zeitung provisorisch zur Verfügung zu stellen. So nahm ich die Zeitung mit dem Artikel, brachte sie in die Redaktion, dort wurde sie… was weiß ich… kopiert oder…
N.K.: Gescannt?
V.D.: Tja… gescannt. Und so kam es vor, dass ich die Zeitung in der Redaktion habe liegen lassen. Da komme ich nach Hause und der Sohn fragt mich: „Wo ist die Zeitung?“ (V.D. lacht) Tja. „Wo ist die Zeitung denn?“ Da erkläre ich ihm, was damit los ist.
N.K.: Haben Sie die Zeitung also zurück bekommen? (N.K. lacht)
V.D.: Aber sicherlich. Sonst hätte es zu Hause einen heftigen Streit gegeben.
N.K.: Nun sagen Sie bitte, wie war das Alltagsleben dort, wo sie wohnten, gestaltet? Worauf schliefen Sie zum Beispiel?
V.D.: Wir übernachteten in der Einheit, in einem Zelt.
N.K.: Ach so, in einem Zelt.
V.D.: Es kam natürlich ab und zu vor, dass wir nachts irgendwohin fahren mussten, um die Technik zu reparieren. Und da kommt man am Abend in den Ort, wo man reparieren soll, und muss dort bis zum Morgen bleiben… Nachts kann man aber nur wenig schaffen… Andererseits muss man in die Einheit zurück und dann am Morgen wieder in denselben Ort, um die Arbeit zu vollenden. Und so schlief man in Karosserien, in Fahrerkabinen.
N.K.: Es gab also verschiedene Situationen?
V.D.: Genau.
N.K.: Aber hauptsächlich war es eine Stadt oder ein Dorf, also eine Siedlung, wo sie in den Zelten stationiert waren?
V.D.: Ja, in der Nähe lag das Dorf Orane.
N.K.: Ach so, ich wollte es bloß präzisieren.
V.D.: Wir waren zwischen Orane und Dytiatki[10] mit der Brigade 25 stationiert. Daneben gab es die Hilfseinheiten. Es gab dort, wenn ich mich nicht irre, einen Einsatz vom Backwarenwerk und Bad- und Wäschereikombinat. Später wurden dort Hangar gebaut, in denen man in den Jahren 1988, 1989 und 1990 unterbracht wurde. Das weiß ich aus den Gesprächen, denn ich pflege Kontakte zu vielen Kollegen, die dorthin zur gleichen Zeit wie ich abkommandiert wurden.
N.K.: Ach so.
V.D.: Ich glaube, dass es während der nächsten 4 Jahre …
N.K.: Na ja, es änderte sich was.
V.D.: …Vieles, vieles änderte sich dort eigentlich. Aber seit der Reise kann ich also, sozusagen…
N.K.: Klar.
V.D.: Und dann war unsere Kommandierungszeit in der Einheit aus, und wir brauchten nicht mehr, dort zu bleiben, und wurden nach Tschernobyl geschickt.
N.K.: In Tschernobyl wohnten sie schon wohl nicht mehr in den Zelten?
V.D.: Nee, dort war das Büro eines Gastronomiebetriebes oder einer Arbeiterversorgungsabteilung – ich kann mich daran nicht genau erinnern – zu Wohnzwecken umgebaut und eingerichtet, mit Betten, Nachttischen versehen.
N.K.: Aha, also es gab dort Betten und Nachttische.
V.D.: Genau. Den Waschbecken gab es, glaube ich, im Erdgeschoss. Hier wurden wir, Kerle aus dem Charkiwer Fleischkombinat und dem Veterinär- und Strahlenüberwachungsdienst unterbracht.
N.K.: Sagen Sie bitte, war es im Sommer? Oder wann waren Sie dort genau?
V.D.: Es war im Sommer.
N.K.: Also im Sommer. Sie verbrachten dort einen Monat oder wie viel Zeit genau?
V.D.: Tja, knapp über einen Monat.
N.K.: Knapp über einen Monat... Heißt das, dass Sie dort im Juni und Juli waren, oder etwa gegen August?
V.D.: Ne, es war im späten Sommer, glaube ich.
N.K.: Im späten Sommer… Es war also im August? Und es war schon in den Zelten wahrscheinlich ziemlich kalt.
V.D.: Hm, würde ich nicht sagen.
N.K.: Echt?
V.D.: Na ja, die Mücken gab es allerdings, aber ich…
N.K.: Haben die Mücken die Katastrophe überlebt?
V.D.: Die Mücken?
N.K.: Ja.
V.D.: Tja, weiß ich nicht, kann ich mich nicht genau erinnern, wie es damals war… Aber da fällt mir was ein… Es ist mir vom Schicksal so bestimmt, dass es im Rayon Pisarewskij der Oblast Sumy einen Fluss gibt, der Worskla heißt. Dort wohnt einer meiner Freunde, und ich habe in der nächsten Nachbarschaft ein Grundstück erworben. Wieso erzähle ich das? Das ist der beliebteste Ort …
N.K.: …der Mücken?
V.D.: Unserer Freunde, unserer Familienmitglieder und Verwandten. Wir treffen dort zur Erholung immer sehr gerne alle zusammen. Um unsere Gesellschaft vorzustellen, stellen Sie sich zwei Fußballmannschaften vor – schön beeindruckend, ne?
N.K.: Was Sie nicht sagen!
V.D.: Wieso ist mir dies eingefallen? Wenn wir beisammensitzen, zieht man alles an, was nur lange Ärmel hat, bedeckt sich mit Decken, um sich bloß vor Mücken zu retten. Und ich… ich bleibe in der Schwimmhose sitzen …
N.K.: Ach so, Sie…
V.D.: Jemand findet es irgendwie peinlich, aber die Mücken beißen mich überhaupt nicht.
N.K.: Ach so, Sie schmecken den Mücken nicht… (N.K. lacht).
V.D.: Genau. Ich weiß nicht, warum.
N.K.: Es kann also auch dort Mücken gegeben haben, aber die sind Ihnen bloß nicht aufgefallen.
V.D.: Weiß ich eigentlich nicht. Aber wenn wir an die Gegend denken, ist die halt sumpfig.
N.K.: Es muss dort also Mücken geben.
V.D.: Genau.
N.K.: Sagen Sie bitte, welche Arbeiten wurden den Männer und den Frauen anvertraut, als Sie dort waren? Oder gab es keine Unterschiede? Ob eine gewisse Arbeitsteilung vielleicht bestand?
V.D.: Wissen Sie, ich glaube, es hat jeder seine Arbeit getan. Was die Frauen angeht…
N.K.: Gab es dort vielleicht nur wenige Frauen?
V.D.: Soviel ich verstehe, wurde es auch den Frauen zuteil, eingesetzt zu werden.
N.K.: Na, wenn Frauen auch eingesetzt wurden, dann wäre es für mich interessant zu wissen, womit sich die Männer befassten und womit die Frauen?
V.D.: Es gab dort Ärztinnen, Köchinnen… Und die Milizinnen (klingt komisch, vielleicht Frauen der Miliz) gab es auch.
N.K.: Echt?
V.D.: Echt.
N.K.: Es herrschte also totale Gleichheit.
V.D.: Hab ich doch gesagt, ihnen wurde es auch zuteil…
N.K.: Also waren die Aufgaben für alle gleich?
V.D.: Es gab auch verschiedenartige Laborantinnen... Tja, ich habe mir eigentlich darüber nie Gedanken gemacht und bin nicht bereit, diese Frage zu beantworten.
N.K.: Ich war bloß neugierig. Aber gut so.
V.D.: Ich weiß nicht. Na ja… optisch fielen die sowieso auf. Umso mehr, weil der Dienstbereich so war… Es fiel auf, dass es in der Zone… Aber in der Zone war ich nicht und weiß nicht viel davon… Na ja, es kamen damals die Fahrzeuge von der Militärhandelsorganisation, aber ich sah darin keine Frauen. Aber, na ja, sowieso, gab es die in bestimmten Gegenden auch.
N.K.: Also, Frauen gab es dort, und die führten bestimmte Arbeiten aus.
V.D.: Genau.
N.K.: Sagen Sie bitte, wie stand es mit der Verpflegung, ob Sie dort hungern mussten? Ich weiß, dass die Verpflegung zu verschiedenen Perioden ganz unterschiedlich war, aber wie stand es damit im August 1986, als Sie sich dort aufhielten?
V.D.: Darüber hätten wir nicht klagen können.
N.K.: Die Verpflegung war also in Ordnung?
V.D.: Es gab sogar kalte Kost, die ging manchmal gleich in den Mülleimer.
N.K.: Echt? So gut war die Küche?
V.D.: Tja, was kann ich darüber sagen… Es gab keine Einteilung: Wenn du aus dieser oder jener Einheit bist, dann kriegst du Essen, wenn nicht – dann hat der Stellvertreter für rückwärtige Dienste für dich keine Verpflegung vorgesehen. So etwas würde niemandem einfallen. Was den Alltag noch anbetrifft, so war es ganz in Ordnung, sich einmal die Woche zu waschen, umso mehr, dass die Bedingungen so waren, dass… Mit der der Dusche und dem Dampfbad war es zwar noch etwas problematisch… Aber Sie wissen wohl, wie es im Leben oft vorkommt… Nachher ist jeder klug. Heute würde ich nie im Prypjat baden, nicht einmal das Gesicht waschen.
N.K.: Aber damals doch?
V.D.: Und was würden Sie tun, wenn ihre Hände mit Heizöl verschmutzt sind?
N.K.: Ich würde die waschen. Und dann eine peinliche Frage vielleicht… Gab es Kollegen, die im Fluss angelten und dann gefangene Fische aßen?
V.D.: Ne, so etwas fiel niemanden ein.
N.K.: Es habe zum Beispiel gehört – weiß jedenfalls nicht, ob das wahr oder erfunden ist – dass die Äpfel dort so groß waren, dass viele der Versuchung nicht widerstehen konnten und …
V.D.: Tja, was kann ich Ihnen sagen, Natascha… Was mich angeht…
N.K.: Das ist eben was ich gehört habe, ob es wahr ist, weiß ich nicht…
V.D.: Na ja, so etwas gab es gewiss.
N.K.: Wirklich?
V.D.: Um Gottes Willen, aber natürlich kam so was vor.
N.K.: Also Sie haben selber so was gesehen, bin halt neugierig.
V.D.: Na ja, da fällt mir was ein. Also, wir waren dort schon seit knapp über einem Monat, und, wie schon gesagt, wohnten die Kollegen vom Veterinär- und Strahlenüberwachungsdienst mit uns.
N.K.: Na ja.
V.D.: Und… es bringt uns eines Tages ein Junge gebratene Pilze. Und da kommen gleich die vom Veterinär- und Strahlungsdienst. Sie hatten A-69 bei der Ausrüstung. Sie untersuchten die Pilze mit ihrer Technik, und die strahlen so, dass jenes A-69 piepste.
N.K.: Auf das Vergnügen, Pilze zu kosten, mussten Sie also verzichten?
V.D.: Stimmt.
N.K.: Gott sei Dank.
V.D.: Aber natürlich gönnte man sich bald einen Apfel, bald so etwas von der Art. Wie ich schon gesagt habe, ist man erst nachher klug. Ich war doch 26, Natascha.
N.K.: Kann ich mir vorstellen.
V.D.: Natürlich spreche ich für mich. Es waren dort sowohl ältere, als auch jüngere Kollegen. Aber es machten sich sowieso nur wenige Gedanken darüber. Jetzt weiß ich natürlich viel davon und verstehe, was das war. Und es gibt sicherlich Dinge, die ich jetzt anders machen würde. Aber um so etwas zu begreifen, braucht man kein Tschernobyl. So was kommt im Leben auf Schritt und Tritt vor… Vieles, sehr vieles enttäuscht einen mit der Zeit…
N.K.: Na ja.
V.D.: Oder… man schätzt manche seiner falschen Taten anders ein und so was in der Art.
N.K.: Und können Sie sich an Ihren ersten Eindruck erinnern, den Sie von der Gegend bekamen, als Sie dort ankamen? Ob etwas Sie überraschte oder vielleicht gar sprachlos machte?
V.D.: Aber sicherlich… Ich würde nicht sagen, dass ich Angst spürte, es war eher Neugier. Bei dem Informationshintergrund, dass es dort grausam, unheimlich, unbehaglich sei, dass das alles… Tja, wie es dort grausam war, hab ich erst jetzt begriffen.
N.K.: Aber damals waren Sie eher neugierig?
V.D.: Damals… Na ja, wie ich eben gesagt habe, war es am ehesten Neugier. Wissen Sie, wenn Sie Ihre Wohnung renovieren wollen, nehmen Sie dies als Ereignis wahr. Und so was einigermaßen Ähnliches kam dort vor. So mindestens nehme ich das alles wahr, weiß aber nicht, ob ich Recht habe. Es war für mich auch eine Art Renovierung. Und wie lange soll eine Renovierung dauern? Zwei bis drei Tage meinetwegen, ne?
N.K.: Kommt drauf an (N.K. lacht).
V.D.: Ok, ich äußere bloß meine Meinung an. Die Varianten, dass gewurschtelt wird, ziehen wir natürlich nicht in Erwägung.
N.K.: Na ja.
V.D.: Tja, die Varianten, dass oberflächlich gearbeitet wird. Aber es fällt dann sowieso auf. Na gut, nehmen wir an, für eine mehr oder weniger qualitative Renovierung bräuchte man eine Woche.
N.K.: Ok.
V.D.: Genauso war es dort. Es verging alles ziemlich schnell, umso mehr, dass ich nicht zur Exkursion oder zur Erholung hinkam. Ich hatte bestimmte Aufgaben, die ich erfüllen sollte. Das heißt aber nicht, dass der gesunde Menschenverstand und die Vernunft allen versagten, das Gehirn funktioniert doch unabhängig davon, ob wir es wünschen oder nicht… Na, die radioaktiven Emissionen zum Beispiel. Damals hatte man so gut wie keine Ahnung von solchen Begriffen. Erst später gewann man eine Vorstellung davon, was diese Emissionen sind. Und es stellte sich heraus, dass es diese Emissionen auch heute gibt. Und die wird es auch morgen, übermorgen und, was weiß ich, in 30 Jahren geben. Die Experten behaupten allerdings, dass sie kontrollierbar und beherrschbar sind, das schon.
N.K.: Ok, dann noch eine Frage. Sprachen Sie mit den Einheimischen, als Sie dort waren? Gab es überhaupt Menschen, die dorthin zurückkehrten? Ich weiß, dass alle Einwohner evakuiert wurden, manche kamen aber später zurück. Haben Sie selber solche Situationen gesehen?
V.D.: Gewiss. Es gab angenehme wie unangenehme Situationen.
N.K.: Können Sie was darüber erzählen? Etwas, was Ihnen einfällt…
V.D.: Damals handelte es sich um Plünderungsfälle. Und ich begegnete sowohl der betroffenen, als auch der beschuldigten Partei, und ich zeigte auch meine Einstellung der ganzen Sache gegenüber. Und nun erlaube ich mir, einige Schlussfolgerungen zu ziehen. Wir fragen uns heute, warum, warum die Zahl von Krebserkrankungen, von Herzerkrankungen und Kreislaufstörungen so stark zugenommen hat. Nehmen wir beispielsweise Prypjat mit seinen 55 000 Einwohnern.
N.K.: Na ja.
V.D.: Ich habe diese Zahl angeführt, damit man sich das irgendwie vorstellen kann. In Saltiwka[11] wohnen etwa 110 000 Menschen, soviel ich weiß. Die Einwohnerzahl Prypjats ist meinetwegen mit der Einwohnerzahl eines halben Saltiwka vergleichbar. Damals hatte mancher Haushalt einen anständigen Tisch, Stuhl, Schrank, Kühlschrank, Fernseher… Und die Kernphysiker und die Energietechniker gehörten damals zur, ich würde sagen, bestbezahlten Bevölkerungsgruppe. Ihre Gehälter waren höher als die der Berg- und Stahlwerker. Und es gab in Prypjat kaum eine Familie, die sich nicht respektierte, die keinen Küchensatz hatte. Damals lag der Küchensatz „Madonna“ im Trend. Nein, nicht „Madonna“, sondern ein deutscher Geschirrsatz. Egal. Die Hauptsache ist, dass ein solches Ding damals ziemlich viel kostete. Doch heute findet man in Prypjat keinen einzigen Küchensatz, keinen einzigen Geschirrsatz, keine goldenen oder silbernen Schmuckstücke, keine Heizkörper. Alles ist weg.
N.K.: Doch so einfach konnte es nicht verloren gehen, irgendwo ist das alles trotzdem.
V.D.: Aber sicherlich, irgendwo ist das alles schon. Aber wo? In Charkiw, in Bohoduchiw, überall… Niemand entsorgte es. So machte sich das Volk es allmählich selber zu Nutze… Von Zweckmäßigkeit war schon keine Rede. Also illegal, mal teurer, mal billiger… wurde das alles ins Geld umgesetzt… Und ich erlaube es mir, meine subjektive Meinung zu äußern, dass nicht diejenigen, die in Tschernobyl waren, meistens kontaminiert wurden. Ich glaube, das Menschenwesen, der Menschenkörper wissen es, sich jeden Bedingungen und jeder Umgebung anzupassen. Wenn der Mensch in die Zone gerät, bekommt sein Körper bestimmte Immunität. Deshalb kam es bei denen, die eine große Strahlungsdosis bekamen, zur Strahlenerkrankungen. Und diejenigen die die Strahlungsdosis portionsweise bekamen, wurden Gott sei Dank weniger betroffen. Und hier auch.
N.K.: Der Körper reagiert allem Ansehen nach auf eine bestimmte Weise.
V.D.: Und stellen Sie sich vor, man setze in der Mitte der Wohnung einen Kühlschrank …
N.K.: Oder einen Fernseher.
V.D.: Oder einen Fernseher, ein Möbelstück. Einen Tee- oder Kaffeegeschirrsatz… Und darin gießt man kochendes Wasser. Und was die meisten Dorfbewohner angeht, so gab es viele Menschen, die sagten: „Was habe ich in einem fremden Ort zu suchen?“
N.K.: Also die Menschen kehrten nach Hause zurück, weil…
V.D.: Ich kenne ehrlich gesagt keine Menschen, die eben damals zurückkehrten, aber ich kenne diejenigen, die die aussiedlungspflichtige Zone gar nicht verließen. Es ist mir unbehaglich, mich an einige Szenen zu erinnern. Man ließ bei der Evakuierung viele Haustiere im Stich. Ein verlassener Wachhund starb, weil er kein Wasser mehr bekam. Dasselbe betraf Kaninchen, die man bei der Evakuierung nicht einmal aus den Käfigen laufen ließ.
N.K.: Grausam.
V.D.: Manche Haustiere schafften es irgendwie auszubrechen. Aber an sehr vieles will ich mich lieber nicht erinnern.
N.K.: Klar. Sagen Sie bitte wie Sie daraus abreisten? War Ihre Abreise auch organisiert oder ging jeder für sich allein nach Hause?
V.D.: Genauso zu viert gingen wir nach Hause.
N.K.: Also sie gingen…
V.D.: Ob wir bis Kyjiw per Anhalter fuhren? Ja. Aus Kyjiw fuhren wir schon mit dem Zug.
N.K.: Waren die Menschen Ihrer Einschätzung nach des Ausmaßes der Katastrophe bewusst? Wie nahm die Gesellschaft diese Ereignisse wahr?
V.D.: Ich glaube, nur wenige waren darüber im Klaren, was eigentlich passiert war. Andererseits war es ziemlich schwierig sich vorzustellen, was da los war… Wenn es Donbass ist und etwas explodiert… (Das Handy klingelt).
N.K.: Fahren wir fort?
V.D.: Ja.
N.K.: Gut. Wo sind wir stehen geblieben? Wir sind bei der öffentlichen Wahrnehmung des Unglücks stehen geblieben. Sie haben gesagt, dass der Gesellschaft die Sache nicht besonders bewusst ist.
V.D.: Diejenigen, die verreisen mussten, die übersiedelt , die die freiwillige Aussiedlungszone und die aussiedlungspflichtige Zone verließen, haben das Unglück an eigener Haut gespürt und eine klare Vorstellung davon gekriegt. Später kamen sie damit ziemlich schnell zurecht.
N.K.: Echt?
V.D.: Heute fühlen sie sich wohl.
N.K.: Ok, klar.
V.D.: Für alle kann ich natürlich nicht sprechen. Ich habe eigentlich ein zwiespältiges Gefühl. 1986, 1986 dachte niemand an Privilegien, Präferenzen und so was, machte sich niemand Gedanken über die Zukunft und so weiter. Und es ist ehrlich gesagt schade, dass sich niemand über die Zukunft Gedanken machte, dass niemand dachte, worin das alles resultiert und so weiter. Aber mindestens 50 Prozent der Menschen, die in den Jahren 1987, 1988, 1989 und sogar 1990 dorthin gingen, hatten vorher schon alles berechnet. Sie wussten, warum und wozu sie gehen. Und ich übernehme die Verantwortung zu sagen, dass ihr Patriotismus schon mit Habgier gemischt war. Und meine heutige Tätigkeit erlaubt es mir heutzutage, das bei x-beliebiger Veranstaltung und in x-beliebiger Behörde offen zu sagen… Genauso, wie ich jetzt darüber mit Ihnen spreche, sprach ich im Kabinett der Minister und im Ministerium für Sozialpolitik. Wie konnte jemand im Jahr 1987 eine Strahlungsdosis von 25 Röntgeneinheiten bekommen?
N.K.: Weiß ich nicht.
V.D.: Und ich auch nicht. Warum fuhr jemand, der 1986 neben dem Reaktor arbeitete, nicht in die Zone, warum ist sein Fahrzeug mit dem er neben dem Reaktor arbeitete, auch außerhalb der Zone geblieben, und warum fuhren diejenigen, die 1987, 1988, 1990 eingesetzt wurden, mehrmals in die Zone?
N.K.: Klar. Sagen Sie bitte, was könnten Sie als erfahrener Mensch den zukünftigen Generationen raten, nachdem Sie zurückgeschaut haben? Sollen sie vielleicht etwas berücksichtigen, beachten, gibt es vielleicht Sachen, an die man sich immer erinnern und die man keineswegs vergessen sollte? Was wäre da nützlich? Ich möchte eben Ihre Schlussfolgerungen hören.
V.D.: Ich bemühe mich immer, meinen Kindern und Enkelkindern… obwohl es noch schwierig ist, solche Themen mit ihnen zu besprechen… irgendwie zu erklären, dass, wenn man einen Hammer in die Hände nimmt und sich damit auf den Finger schlägt, es ganz in Ordnung ist. So was kommt im Leben vor, man sollte daraus kein Drama machen und so weiter und so fort. Aber wenn so etwas passiert ist, sollte man sich überlegen, was man machen sollte, um sich nie wieder auf den Finger zu schlagen, und weder sich selber, noch dem Vater, der Mutter, der Oma und der Opa die Stimmung zu versauen. Na ja, und auf jeden Fall den gesunden Menschenverstand bewahren. Und keineswegs nachlässig sein. Soll man hier einen 6-Millimeter-Bolzen anziehen, dann soll es ein 6-Millimeter-Bolzen sein und es soll angezogen und nicht mit einem Faden oder mit einem Draht angebunden sein.
N.K.: Danke.
V.D.: Vielleicht erkläre ich nicht besonders verständlich.
N.K.: Doch, alles ist verständlich, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.
V.D.: So. Es machte mir Spaß, an der Schule zu arbeiten, nachdem ich für wehrdienstuntauglich erklärt worden war. Ich bekleidete die Position des stellvertretenden Direktors für Wehrausbildung bei einer Mittelschule. Und es kam so, dass ich in der Klasse, wo ich mein Fach unterrichtete, die Klassenleitung übernahm. Es war die 9. Klasse, 16 Jungen und 2 Mädchen. Normalerweise hatten die neuen Mädchen die medizinische und Sanitätsausbildung mit einem Arzthelfer. Und ich arbeitete mit den Jungen. Dazu noch unterrichtete ich in meiner Klasse Sport. Und es kamen ab und zu ihre Eltern und trugen mit mir Streit aus: „Wozu denn strapazieren Sie unsere Kinder?“ Und da sagte ich: „Mal sehen, vielleicht wird’s ihnen von Nutzen sein“. Im Februar gab es das Klassentreffen, und ich war auch eingeladen. Man erinnerte sich meine Worte. Ich pflegte ihnen immer zu sagen: „Ihr seid Männer, zukünftige Männer und denkt immer daran, dass jeder seines Glückes Schmied ist!“ Und es ist also so angenehm, deine ehemaligen Schüler zu sehen, die deine Wörter im Kopf behalten haben und dir nun sagen: „Danke dir dafür, dass du uns gefordert hast, Petrowitsch. Beim Wehrdienst kam uns das zustatten“. Was noch?
N.K.: Weiß ich nicht, ich habe keine Fragen mehr. Möchten Sie vielleicht was hinzufügen?
V.D.: Ich wünsche allen, gesund zu sein und den gesunden Menschenverstand zu bewahren.
N.K.: Danke.
[1] In der Sowjetunion bestand für die meisten männlichen Staatsbürger die Wehrpflicht. Die Dienstzeit betrug für Soldaten und Unteroffiziere normalerweise zwei Jahre.
[2] Fluss in Turkmenistan.
[3] Gebirge an der Grenze zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil Russlands.
[4] Kleinstadt in der Oblast Charkiw
[5] Amerikanischer Radiosender, der wegen antikommunistischer und antisowjetischer Stellungnahme seiner Moderatoren in der Sowjetunion offiziell verboten war, trotz des Verbotes aber unter vielen sowjetischen Staatsbürgern große Beliebtheit genoss.
[6] So hieß in der Sowjetunion die Polizei.
[7] Dorf in der Oblast Kyjiw
[8] Für die Einberufung Wehrpflichtiger zuständiges Amt.
[9] Regionale Zeitung, die seit dem 1. Januar 1969 in Charkiw erscheint
[10] Dorf in der Oblast Kyjiw. Heute befindet sich hier der Haupt-Checkpoint, den man überqueren muss, um in die Sperrzone zu gelangen.
[11] Stadtteil Charkiws