Tatjana
Tatjana
- Liquidator
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Die Zeit, in der Tschernobyl-Zone :
Aktivitäten in der Tschernobyl-Zone durchgeführt :
Natalia Kozlova (N.K.): Also, heute haben wir den dritten September 2015. Wir befinden uns im Büro von Sojuz Tschernobyl in Charkiw, ich, Natalia Kozlova, interviewe …, können Sie sich bitte vorstellen?
Tatiana Ivanova (T.I.): Tatiana Nikolajewna Ivanova.
N.K.: Sehr angenehm. Und da kommt meine erste Frage an Sie. Sie ist ziemlich allgemein. Das ist eine Frage und eine Bitte zugleich. Ich bitte Sie uns die Geschichte Ihres Lebens zu erzählen. Alles, was Sie für wichtig halten.
T.I.: Ich bin in einer richtigen Arbeiterfamilie geboren, in einer absoluten Arbeiterfamilie. Das heißt, mein Vater war Arbeiter, meine Mutter Bauarbeiterin. Wir haben im Stadtbezirk Nowyje Doma gewohnt und ich habe die Schule Nr. 11 besucht. Sehr schön sind meine… Sehr schön sind meine…
N.K.: Nein, so was…
T.I.: Sehr schön sind meine Erinnerungen an die Schule, gleich weine ich einfach.
N.K.: Ich habe auch die Schule Nr. 11 besucht (lacht).
T.I.: Ja, sehr gut. Damals habe ich in der Nähe von meiner Schule gewohnt. Meine Kindheit war also wie wohl bei allen sowjetischen Kindern so sorgenlos. Wir interessierten uns gar nicht für Politik, weil die Lage damals eine sehr lange Zeit lang stabil und friedlich war. So, unsere Kindheit war auch sorgenlos, weil von allem, was man uns gegeben hat, wir genug hatten. Man wollte nichts mehr. In der Schule habe ich gut gelernt, ich war sehr engagiert, ich trieb Sport, Eiskunstlaufen, so. Ich habe Englisch gelernt, habe … und Biologie mochte ich gar nicht. Aber heute bin ich Biologin, Laborfachärztin, arbeite beim Institut für Therapie, in der Intensivstation, schon seit 30 Jahren, so. Damals jedoch war alles so unbeschwert, alles lief so ab, wie ich mir das wünschte. Aber da ich eigentlich eine widerspruchsvolle Person bin … Ich habe neuen Klassen absolviert, doch es gab damals kein Privatunternehmertum, so habe ich nach der mittleren Stufe die Schule verlassen, weil ich meine Entscheidungen selbst treffen wollte.
N.K.: Aha …
T.I.: So beschloss ich mich um einen Studienplatz an der medizinischen Fachschule zu bewerben. Bei der Bewerbung fehlten mir 0,5 Punkte für die Immatrikulation an der Fakultät, für die ich mich entschieden habe. So musste ich Laborantin, Arzthelferin werden. Nach dem Studienabschluss begann ich am Institut für Therapie zu arbeiten, wo ich immer noch angestellt bin. Hier trafen solch viele Umstände zusammen, dass man mir vorschlug die Stelle zu wechseln, weil sie mittlerweile nur für den Schwangerschaftsurlaub frei wurde. Und ich wechselte in das Krankenhaus Nr. 1, das damals eine Poliklinik war. Das städtische Lenin-Krankenhaus Nr. 1 hieß es damals. Das Krankenhaus befindet sich in der Karl-Marx-Straße. Von da aus wurde ich eigentlich abkommandiert.
N.K.: Ach so!
T.I: Also, ich war 20 Jahre alt. Mein Geburtstag ist am 18.Januar, so war ich 20 Jahre alt und am 15. September 1986 … Eigentlich, als die Havarie passierte, im Mai… Im Mai habe ich davon erfahren. Wir haben einen Ausflug gemacht. Alles war so schön, das Wetter war wunderbar und plötzlich brach ein Regenschauer aus heiterem Himmel herein, ein richtiger Regenschauer. Uns hat er auch erwischt. Aber mit 20 Jahren, wissen Sie, hatte ich vielleicht überhaupt keine Angst davor. Genauer gesagt nichts schien uns damals schrecklich und drohend zu sein. Und am 15. September hatte ich in der Poliklinik meine Sprechstunde, wir machten eine Blutprobe aus dem Finger. Das war eine Bezirkspoliklinik. Da kam die Chefärztin und sagte: “Morgen um 7 Uhr versammeln sich auf dem Gelände des Krankenhauses Nr. 4 Menschen. Du musst nach Iwankow abkommandiert werden. Nimm das Mikroskop mit.“ Das … Die Dienstreisebescheinigung ist vom17. September datiert, das bedeutet, dass man mich darüber am 15. September informiert hat, einen Tag hatte ich für die Vorbereitung. Am 17. September um 7 Uhr morgens war ich schon auf dem Hof des Krankenhauses Nr. 4. Was mich damals verblüfft hat: Ich war ein Kind in einem T-Shirt und einem kurzen Rock, und da kamen, wie sie mir damals erschienen, vierzigjährige Weiber. Jetzt bin ich auch ein 50-jähriges Weib. So, was will ich damit sagen: Sie alle waren erwachsene reife Fachleute. Da waren alle Unterstationen des Notfalldienstes der Stadt Charkow mit Krankenwagen.
Das waren Menschen, die über gewisse Erfahrung verfügten, eigene Familien, Kinder hatten, Arbeit, Wohnungen, ihre Geschichten hatten. Das waren Menschen mit einer bestimmten Lebensgeschichte. Meine Geschichte hat damals noch gar nicht angefangen. Nach der Schule ging ich auf die Fachschule und das wäre alles. Na ja, gearbeitet habe ich in der Tat … Ich habe die Fachschule 1985 absolviert und 1986 wurde ich zum Wehrdienst einberufen. So war ich darüber etwas empört, aber die Chefärztin sagte: „Du bist wehrpflichtig, so musst du fahren.“ Ich kann nicht behaupten, dass ich keine Angst hatte. Ich hatte Angst aber nicht vor körperlichen Schmerzen, sondern vor Ungewissheit. Verstehen Sie mich?
N.K.: Aha.
T.I: Das Wort “Radioaktivität“ war etwas Abstraktes, man kann sie nicht beißen, nicht lecken, nicht riechen, spüren oder sehen. Das ist etwas, das man … erst später habe ich begriffen, wie die wirkt. Ich habe später alles sehr gut gespürt… Radioaktive Emissionen waren wiederkehrend, sehr oft auch im Laufe des Tages. Das war September, die Katastrophe war im April, so war im September alles noch aktiv. Also, wir sind in den Bus eingestiegen und zusammen mit Ärzten gefahren. Ärzte, Laboranten … Es waren zwei Laboranten, mit mir zusammen ist noch ein 20-jähriges Mädchen gefahren. Der Arzt war ein schon ziemlich alter Mann, gegen siebzig. Die Namen kann ich nicht mehr erinnern …so. Und das Team, die Ärzte und Arzthelfer waren erwachsene Menschen. Insgesamt haben wir neun Unterstationen des Notfalldienstes, so waren das neun Teams. Die Menschen waren sehr lustig. Und überhaupt sind Mediziner sehr … Wissen Sie, das ist wohl eine bestimmte Kategorie von Menschen: ausdauernd, stark, ich meine … ich meine das im Allgemeinen. Das sind Menschen, die, wenn es einem auch schlecht geht, bei sich behalten und gleichzeitig mit jemandem mitfühlen können. Ich spreche da über meine Generation, ich …
N.K.: Aha.
T.I.: Ich will gar nicht jemanden verurteilen, wer wie ist. Es gibt verschiedene Menschen sowohl unter Medizinern als auch unter Pädagogen. So kamen wir fast in der Nacht nach Iwankow, d. h. in Kiew lief alles gut ab, keiner hat uns aufgehalten. Wir kamen nach Iwankow, das war der erste Checkpoint. In der Stadt Iwankow begegneten uns Mannschaften des Notfalldienstes, die schon ausreisen mussten, und wir reisten ein. An diesem Checkpoint wurden unsere Dokumente, Fotos weggenommen und wir bekamen Ausweise für die Einreise in die Zone. Ich zeige Ihnen unbedingt.
N.K.: Gut.
T.I.: Für jede Zone gab es einen Ausweis. Man trug seine Ausweise an einem Gummiband an der Brust, na, wie wer das wollte, und darauf stand die Zone. Zum Beispiel, „Prypjat“, „Tschernobyl“. Es gab aber auch solch eine Bezeichnung für die Zone wie „Überall“. Das bedeutete, dass man überall durfte. So stand auf meinem Ausweis „Tschernobyl“, darum durfte ich in Prypjat eigentlich nicht einreisen, aber da ich eine Person, ich kann das sogar nicht beschreiben, eine unberechenbare Person bin… So kamen wir dort an, bekamen Ausweise, reisten in die Zone ein und hielten uns in Tschernobyl auf. Das ist eine ziemlich ruhige Stadt. Hier fuhren nur Autos, es gibt keine Menschen und damit hat sich’s. Sehr schön ist es dort, sehr … Eine sehr grüne schöne Stadt, sogar eher ein Städtchen. Wir wurden im Tschernobyler Krankenhaus mit Schichtbetrieb untergebracht. In friedlicher Zeit war das ein gewöhnliches Kreiskrankenhaus, das einzige im Kreis. Aus unklarem Grund kriegten wir keine Matratzen und mussten direkt auf dem Federrost eine Nacht lang schlafen (lacht). So, und später haben wir alles bekommen. Man gab uns diese weißen Jacken, weißen Hosen, weiße Mützen und Atemschutzmasken „Lepestok“ („Blumenblatt“). Weil wir sehr jung waren, so mussten … So bekamen wir einen Tag frei, um unsere Kleidung enger zu machen. Weil die Größen für richtig erwachsene Frauen waren.
N.K.: Aha…
T.I.: Na, also dort …Frauen … Wissen Sie, das spielte sogar keine Rolle, weil unsere Jacken mit der Knopfleiste auf der rechten Seite waren, das war also … von keiner besonderen Bedeutung. Also, und in der Nähe war ein Labor. Wir kamen ins Labor, und jetzt erzähle ich etwas Komisches. Das Labor war sehr klein. Das war ein kleines Rayonkrankenhaus, kleine Ärztezimmer, enge Flure, ein winziges zweistöckiges Gebäude. Und dieses Labor war eigentlich in einem Winkel, wo es einen riesigen Schrank mit einer Menge von Ordnern, einen kleinen Tisch und ein Fenster gab. Und alles war so grau, so dunkel, riesige Bäume, alles war ungepflegt. Und so ging ich, fand auf der Straße einen Blumentopf mit Dreimasterblumen, wusch ihn und brachte ins Labor. Dreimal am Tage kamen Strahlenschutzmesstechniker und kontrollierten Strahlungswerte. Dann kamen auch junge Männer mit Schläuchen und gossen den Fußboden. So lebten wir wie Frösche. Und als dann ein Strahlenschutzmesstechniker kam und diese prächtigen Dreimasterblumen sah … Damals mit 20 Jahren habe ich noch nie im Leben solche gemeinsten Schimpfwörter gehört (lacht) und er überhäufte mich einfach mit einer Flut.
N.K.: Na, so ein …
T.I.: Na ja, diese Blume war einfach katastrophal verseucht, aber ich wollte doch etwas Schönes haben. Ich begann im Labor aufzuräumen, Staub zu wischen, Ordner abzustäuben. Damals konnte ich die Gefahr nicht begreifen. Später wurde mir erklärt, dass eben der Staub am gefährlichsten ist, weil die Radioaktivität sich mit Staub überall festsetzt. Darum hat man uns ständig „gewaschen“ und so waren wir wie Frösche immer im Wasser. Die Strahlenschutzmesstechniker haben jeden Morgen gefluchtet. Unser Arbeitstag dauerte 18 Stunden: von sechs Uhr morgens bis zwölf Uhr nachts. Wir haben sechs Stunden geschlafen. 18 plus 6 macht 24. Dreimal pro Tag brachte uns in eine “schicke” Kantine. Das war eine Autowerkstatt, wo Fahrzeuge repariert wurden (lacht). Da gab es ein bestimmtes System: Talons, Tabletts. Am Anfang nahmen wir die Schutzmasken ab und ließen sie am Hals hängen. So war unsere ganze Mahlzeit in der Schutzmaske. Na ja, ich erzähle nur einzelne Momente, die sich besonders eingeprägt haben.
N.K.: Aha…
T.I.: Und das Essen war … Wenn ich sage, dass wir so gefüttert wurden, als ob wir Minister gewesen seien, sage ich einfach nichts damit. Das Glas mit saurer Sahne konnte man einfach umkippen – sie blieb im Glas, so steif war sie. Ich weiß nicht, wie hoch der Fettanteil da war. Es gab viel Essen, sehr viel Fleisch. Alles war sehr lecker, aber das alles konnte man nicht aufessen. Dann haben wir diese Talons gegen Kleinkram getauscht. Aber das ist nicht wichtig. Man hat uns so gefüttert, na, man hat uns praktisch gemästet. Alkohol war verboten, verboten. Und wenn man auch behauptet, dass Wein eingeschenkt worden sei, stimmt das nicht. Ich sage das ohne Verstellungen. Vielleicht hat jemand etwas irgendwo, aber ich will darüber nicht sprechen. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass man uns keinen Alkohol einschenkte. Das Einzige, was wir damals in Flaschen bekamen, war die Purpursonnenhutkraut-Tinktur.
N.K.; Aha …
T.I.: Nun ja, das ist ein immunomodulierendes Mittel und ob man es eingenommen hat? Nein. So und das Leitungswasser haben wir natürlich auch nicht getrunken. Für uns wurden regelmäßig kistenweise Getränke wie „Bajkal“, Mineralwasser „Obolonska“ und vielleicht auch „Pepsi“ geliefert, das kann ich nicht mehr so genau sagen. Das konnte man trinken, soviel man wollte, aber was normales stilles Wasser betrifft, bekamen wir es nicht. Ähm, ich habe bereits gesagt, dass Mediziner fröhliche Leute sind. Sie können aus nichts ein Fest machen. Sie lachen, lächeln trotz alledem. Und einmal sehe ich, dass meine Notärzte … Ja, man brachte zu uns in die Sprechstunde Menschen, die an dem Reaktor gearbeitet haben. Wir entnahmen ihnen die Blutprobe und bestimmten Leukozytenwerte. Sie fuhren zum Reaktor, kamen zurück und wir entnahmen wieder die Blutprobe und bestimmten die Leukozytenwerte. Und abhängig davon, wie hoch diese waren, na zum Beispiel, wenn sie zu hoch waren, mussten wir darüber die Ärzte im Krankenhaus informieren. Und diese Menschen durften nicht mehr so weiter arbeiten oder … Ich weiß nicht, wie danach ihr Schicksal war. Also, wir mussten über die Blutwerte einen Bericht erstatten, ob sie im Normbereich waren. Ich meine nicht das gesamte Blutbild – diese Analyse machten wir selten – sondern nur die Leukozytenwerte. Das sind weiße Blutkörperchen, die für die Immunität zuständig sind. Und sie sind immer die ersten, die durch die ionisierende radioaktive Strahlung betroffen sind. Das ist das erste Anzeichen. Dann werden die Leukozytenwerte zu niedrig, das Abwehrsystem wird schwach und dann tritt die Strahlenkrankheit auf. So…
N.K.: Aha…
T.I.: Und eigentlich wäre alles gut gewesen, wenn einmal ein Rettungswagen nicht zum Reaktor hätte fahren müssen. Und dann bat ich: „Nehmt mich mit, ich möchte den roten Wald sehen“. Was ist dieser rote Wald? Warum ist er rot? Ist er verbrannt? Warum steht er? Er muss doch hinfallen. So, verstehen Sie, das war die Wahrnehmung eines Kindes, im Alter von 20 Jahren. Na, das ist noch, wissen Sie, das ist ein … So. In Iwankow wollten sie mich bleiben lassen und ich sagte: „Ihr wisst doch, ich möchte nach Tschernobyl“. Na, ich musste unbedingt diesen roten Wald sehen. Ob das eine Dummheit oder ein Zufall oder aber auch eine Gesetzmäßigkeit war, kann ich nicht sagen. Im Rettungswagen musste ich mich auf den Fußboden legen, weil am Kontrollpunkt alles geprüft wurde. Im Wagen war der Rettungseinsatz: Arzthelfer, Arzt, noch ein Arzthelfer und Fahrer. Ich habe mich so hingelegt, dass man mich nicht sehen konnte. So lag ich und wusste nicht, ob ich sprechen durfte. Und wir kamen an. Ich sah den roten Wald. “Rot” – das ist nicht ganz richtig, eher terrakottafarben, so war die Farbe, ganz stark, und so standen die Kiefern. Also wissen Sie, die radioaktive Strahlung war einfach wie ein Taifun. Ich kann nicht behaupten, dass die Bäume verbrannten, nein, sie wurde einfachen farblos. Und da sah ich den Kernreaktor. Nichts Besonderes war da zu sehen, weder Rauch, noch Feuer, noch … Die Menschen eilten hin und her, holten etwas, fuhren. Damals, wenn ich mich nicht irre, war in unserem zentralen Rayonkrankenhaus Regisseur Schewtschenko, der später starb. Er hat das alles ohne Schutzkleidung aufgenommen, weil nachdem man das alles angezogen, konnte man die Kamera nicht mehr in der Hand halten. Und er hat vom Hubschrauber gedreht. Er konnte dort verschiedene Ausnahmezustände beobachten, jemand wurde da mit dem Kranhaken gegriffen, dann … Na, die Hubschrauber haben wohl mehr von der radioaktiven Strahlung abbekommen als der Landtransport.
N.K.: Aha.
T.I.: Er hat vom Dach den Film gedreht, die Männer haben … haben Bauschutt vom Hubschrauber in den Atomreaktor geworfen. Dabei wurde sehr viel fotografiert und aufgenommen. Und wir haben mit ihm in diesem zentralen Rayonkrankenhaus Entwürfe gesehen, wir haben uns Entwürfe für den künftigen Film angesehen, der zurzeit wie ein Dokumentarfilm gezeigt wird. Das ist ein tragischer Film, da gibt es solche Aufnahmen, wo … Na ja, vielleicht wurde etwas auch verbessert, trotzdem bleibt der Film sehr wahrheitsgetreu. Das ist wirklich so. Ich meine die Männer, die in drei Minuten schnell eintreten, etwas nehmen, vom Dach werfen und zurück mussten. Es war so, dass sie auf dem Dach blieben und da war schon der nächste Einsatz dran. Und mancher Mann lag schon ohnmächtig. Das ist kein Geheimnis. Ohne Verluste sind solche Katastrophen kaum möglich. Das war eine richtige Katastrophe. Und dass diese radioaktive Ausstrahlung auf die Menschen wirkt, verstand ich auch gut. Ich erzähle Ihnen gleich warum. So? Ich habe meine Sprechstunde, ein junges Mädchen, ziemlich gesund, gesund. Und da brennen plötzliche meine Wangen und im Mund schmeckt es nach Eisen. Aber das meinte ich „nach Eisen“. Das war ein metallischer Geschmack auf. Und dann kommen die Männer und sagen: „Ja, es war ein radioaktiver Auswurf.“ Also, verstehen Sie, wie sensibel ich war. Jeden Abend fuhren wir ins Dampfbad. Die Menschen wuschen sich nur mit Haushaltsseife. Na es war, verstehen Sie, für mich war das nicht besonders klar. Aber andere Menschen verstanden das.
N.K.: Aha.
T.I.: Dann hatte ich noch Glück, einer Regierungskommission vorgestellt zu werden, die nach Tschernobyl kam. Man hat uns zu sich bestellt, fein gemacht und in einer Einrichtung untergebracht. Später behauptete man, dass das eine Anstalt war, Anstalt „Berjozka“, weil es im Zimmer, wo man uns untergebracht hat, keine Türklinken, keine Fensterklinken gab.
N.K.: Das heißt, dass im Großen und Ganzen das Gebäude …
T.I.: Ich weiß nicht … (lacht)
N.K.: Das war also eine Anstalt für Geisteskranke. Habe ich Sie richtig verstanden?
T.I.: Ich habe das sofort verstanden, vielleicht war das doch eine Anstalt. Dann kamen diese … Ich kann mich noch gut erinnern, dass in dieser Kommission Worobjew war. Ich wusste, was er war und dass er dabei war. Alle waren sehr einfach angezogen, wir hatten Hemden an, ich habe jemandem sogar einen Knopf angenäht. Also, wir haben gewartet, bis diese Elite mit dem Essen fertig war. Dann hat man uns zum Tisch eingeladen. Dort war solch eine Festmahl. Ich habe wohl nie im Leben so was gegessen (lacht). Ja, wissen Sie, das ist immer noch die Wahrnehmung und die Auffassung eines Kindes, nur vereinzelte Blitze. Ja, der wichtigste Held in meiner Erzählung ist Hahn Peter. Er lebte auf dem Hof unseres Krankenhauses. An den Seiten hatte er kein Gefieder, aber er hatte einen Schwanz. Das war ein furchtloser zahmer Haushahn. Ich persönlich habe ihm die saure Sahne gebracht, eben die fette saure Sahne, die wir bekommen haben.
N.K.: [...]
T.I.: Er hat sie gerne … ja, er hat sie gerne gefressen, sehr gerne. Er hatte keine Angst vor Menschen. Wir haben aber eine Anweisung, wir durften nur auf den gepflasterten Pfaden gehen und nicht in das Grüne. Also, der Hahn durfte alles. Ich stellte dann das Essen auf den Pfad, aber ich konnte ihn nicht streicheln, weil er weglief. Und das ist mir wohl zur Gewohnheit geworden … Zurück nach Hause kehrte ich am 3.Oktober. Aber ich kann sagen, dass bis zum Frühling ich Angst hatte … Der Winter war vorbei und da kam das Gras. Ich hatte aber Angst auch im Herbst auf dem Gras zu laufen. Als ob ich immer noch diese Anweisung gehabt hätte, dass ich dorthin nicht durfte. Das hieß, es hat nur noch Pfade gegeben, nur noch Asphalt. Wissen Sie, man programmiert sich für eine bestimmte Einstellung und wenn man etwas nicht darf, duldet das Verbot keinen Widerspruch. So ist das …
N.K.: Und wie lange waren Sie dort?
T.I.: Drei Wochen lang.
N.K.: Drei Wochen, aha …
T.I.: Ja. So, was war da noch interessant. Und dieser Hahn fraß die saure Sahne, die ich ihm brachte. Ich liebte ihn einfach, weil ich weder Katzen noch Vögel hatte. Und dieser Hahn… Ich bringe Ihnen noch einen Zettel. Ich hatte dort aber auch einen Verehrer. Ein Fahrer war das. Das war kein richtiger Verliebter. Er kam und sagte: „Wenn jemand dir was Böses antut … Ich habe hier keine Kinder gesehen. Nur ihr seid hier. So sag mir das, und ich werde …” Und er hat mir einen Zettel geschrieben. Wissen Sie, ich kann den einfach nicht wegwerfen. Ich traue mich nicht das zu tun. Ich bringe Ihnen den Zettel. Der ist nicht besonders persönlich, aber sehr wertvoll. Und plötzlich war dieser Hahn verschwunden. Wohin und wie, wusste ich nicht. Aber er war weg. Wir, Sünder, haben Äpfel gegessen. Die Äpfel waren so groß wie große Granatäpfel. Die Bäume waren… Sie luden uns einfach ein, weil es sehr viele Früchte gab und die wurden nicht geerntet. Die Zweige lagen einfach auf dem Boden. Die Äpfel waren prachtvoll und wir, Sünder, aßen sie. Zwar war das uns verboten, aber wir aßen sie.
N.K.: Ach ja.
T.I.: Wissen Sie, man ging mit uns irgendwie… wie mit Kindern um, gutherzig, aber auch wie mit Erwachsenen. Wir haben alles gemacht, was die Erwachsenen machten, absolut alles. Musste man aufräumen, räumten wir auf, musste man für jemanden Wäsche waschen, so … die Männer. Wir bekamen damals ein besonderes Waschmittel, da stand eine Abkürzung, genau kann ich nicht mehr sagen, drei Buchstaben. Ich glaube aber, dass Armeeangehörige das genau wissen sollen. So haben wir mit diesem Waschmittel gewaschen, obwohl man das alles nicht mehr zu waschen brauchte, man musste das nur wechseln. Aber das waren Aufwendungen. In einem Film über den Krieg in Vietnam ist alles sehr einfach. Es gibt Ausrüstung, Uniform, vielleicht für eine große Summe. So die gebrauchte Uniform weggeworfen und die neue angezogen. Bei uns war es wie immer üblich, wenn sie gewaschen, geflickt, ausgebessert wurde. Ich möchte da noch etwas hinzufügen … Für Anrufe von Zuhause gab es dort auch ein Festnetztelefon. Zum Anrufen brauchte man eine Vorwahl. Wenn ich angerufen wurde, war es mir … Mein Studienfreund rief mich an, der damals im Militärdienst in Tscherkassy war. Er rief mich an und sagte: „Na, warum aber du? Warum gerade du? Es gibt doch so viele Menschen, so viele erwachsene Menschen in Charkiw, warum aber gerade du solltest das sein?“ Und eben damals fing ich an zu weinen.
N.K.: Aha.
T.I.: Also, ich verstand damals nicht, welche Folgen das alles haben sollte. Keiner verstand das. 1986 waren die Menschen so wie zurzeit Teilnehmer der Antiterroristischen Operation[1], am Anfang waren das Freiwillige. Damals war das einfach im Bewusstsein. Das war vielleicht ein Superpatriotismus. Ärzte hatten keine Auswahl, Militärangehörige hatten keine Auswahl. Man dachte gar nicht an Belohnungen und Auszeichnungen. Ich habe sogar kein Dienstreisegeld bekommen. Die Mutter hat, entschuldigen Sie mir meine Aufrichtigkeit, das Geld vom Sparkonto abgehoben und mir gegeben, weil es nicht gut war, gar ohne Geld zu fahren. So hatte ich damals keine Angst, sondern fühlte mich irgendwie allein. Ich musste mit 20 Jahren erwachsen werden, als alle anderen noch … Eigentlich haben meine Schulkameraden mit 20 Jahren noch gar nicht gearbeitet, sie haben alle noch studiert. Alle haben studiert, man hatte immer noch die sorgenlose Kindheit, Eis, Park, Mädchen. Und zum ersten Mal bekam ich einen richtigen Schreck, als ich am 3.Oktober zurück nach Hause kam. Übrigens wurden unsere Notarztwagen in … nicht eingelassen. Uns zwei hat man früher fahren lassen, weil wir jung waren. Jemand traf die Entscheidung, dass man uns ausführen sollte. In Kiew waren Menschen sehr gutherzig. Wir hatten weiße Jacken an, unsere Mützen nahmen wir ab.
N.K.: Die aus Tschernobyl?
T.I.: Ja-ja. Wir hatten weiße Hosen an und … das waren keine Überziehschuhe, sondern Schuhe mit Gummisohle, Drillichschuhe. In Kiew hat man uns keine Aufmerksamkeit geschenkt. Ich werde Ihnen ein Foto zeigen, wo wir auf dem Chreschtschatyk[2] sind. Und in Charkow in der Straßenbahn schauderte die Hälfte der Passagiere vor mir zurück, weil ich weiße Kleidung anhatte. Warum hatte ich diese Kleidung an? Weil ich bei der Abreise im September nur ein T-Shirt und einen Rock anhatte. Als ich zurückkehrte, war es schon kalt, Frühfrost. Es war kalt. Darum musste ich diese Uniform tragen. Charkow war irgendwie …
N.K.: … zu erschrocken.
T.I.: Ja, man hatte zu viel Angst. Aber viele Jahre danach habe ich diese Schuhe noch zu Hause (lacht) unter dem Sofa aufbewahrt. Und meinen Ausweis bewahre ich immer noch. Und wir haben uns mit diesem Ärzten so befreundet, obwohl sie doppelt so alt wie ich waren, dass wir danach noch sehr lange miteinander in Kontakt blieben. Und immer noch bin ich mit einer Arzthelferin in Kontakt, zwar arbeitet sie nicht mehr. Wir bleiben durch das soziale Netzwerk „Odnoklassniki“ im Kontakt und treffen uns ab und zu am 26.April wieder. Und wissen Sie, ehrlich gesagt bedauere ich das gar nicht.
N.K.: Aha.
I.K.: Warum? Weil das so ist. Man nimmt jetzt an der ATO teil, und warum dieser und nicht der andere? So ist das Leben. Weil jemand muss doch tapferer als andere sein. Ich halte mich für feige Memme und meine Mitschüler, als ich zurück war, sagten: „Mein Gott, wie tapfer bist du!“ Ich persönlich fuhr damals ins Nirgendwo, ich wollte doch gar nicht eine Heldentat vollbringen. Ich hatte einfach eine Dienstreise. Warum bekam ich plötzlich Angst? Das erkläre ich Ihnen gleich. Als ich nach Hause zurückkehrte, bekam ich einen starken Haarausfall. Ich hatte sehr schöne Haare. Und der Haarausfall war so aggressive, dass ich Angst hatte, ohne Haare zu bleiben. Und dazu hustete ich sehr. Das war ein starker Husten, eine Tracheitis. Man hustet endlos und da kommen nur Krämpfe, man kann nicht schlafen, man kann nichts tun. Und damals sagte man in unserer Poliklinik, dass wir kein … Man sagte, sie wissen nicht wie man diesen Husten behandeln soll, so.
N.K.: Aha.
T.I.: Allmählich wuchsen mir neue Haare. Und den Husten haben wir mit Kodein gestillt. Wir haben ihn gestillt und nicht geheilt. Und das wäre’s. Und ich kann noch sagen, dass mit 20, mit 21 Jahren, hatte ich Freunde, junge Männer … Ich habe sogar einige Zeit verschiedene Tests gemacht, weil es interessant war zu wissen, wie sich ein Mensch mir gegenüber verhält. Ich kann sagen, dass 80 Prozent junger Männer einfach versagten, nachdem ich ihnen gesagt hatte, dass ich in Tschernobyl war.
N.K.: Was aber Sie nicht sagen!
T.I.: Ja, das stimmt.
N.K.: Das ist, das ist aber…
T.I.: Ich nehme kein Blatt vor den Mund. Weil für sie das bedeutete: eine Aussätzige. So in diesem Kontext. Das war keine Krankheit, das war wie ein schwarzer Fleck. Verstehen sie, wie die Haltung war? Und alle diese Ereignisse galten sehr lange als geheim. Ich wollte mich um einen Studienplatz bewerben und da kam das Jahr 1991 und alles wurde freigegeben, und man konnte bestimmte Sonderrechte bekommen. 1990 wurde ich zum ersten Mal ohnmächtig, einfach so, mitten auf der Puschkinskaja-Straße. Und mein Ausweis stak so in der Tasche. Und nur deswegen brachte man mich in die radiologische Station.
N.K.: Aha. War das der Ausweis des Tschernobylers[3]?
T.I: Ja-ja. Das waren die ersten Ausweise. Sie waren rot und hatten einen dicken Umschlag. Jetzt sind sie in Blau. Und der Ausweis stak in der Tasche. Mit dem konnte man kostenlos die U-Bahn fahren. Und man hat diesen Ausweis damals bemerkt und mich in die Abteilung für Radiologie in Puschkinskaja-Straße geliefert, weil eigentlich …
N.K.: Aha. Man hat verstanden, was da los ist.
T.I.: Na, sie wussten nichts und ich konnte ihnen nichts sagen. Wie konnte man verstehen, was mir passiert war. Ich fiel einfach so auf der Worobjew-Straße und dabei habe ich mir alles verletzt. Und ich kann keinen Grund dafür nennen, keine Vorgeschichte, ob es mir schwindlig oder übel wurde. Ich wurde gefragt, aber ich wusste nicht mehr, ich ging und… So kam ich in das Krankenhaus für Radiologie und habe dort viele Tschernobyler kennengelernt, dort waren viele Tschernobyler. Dort war zum Beispiel Slavik Naidenov, der Mann, der als erster nach Feuerwehrleuten auf das Dach [des Reaktors (Anm. d. Übers.)] stieg. Es wurde ihm natürlich die Knochenmarktransplantation angeboten. Alle, denen die Knochenmarktransplantation gemacht wurde, sind gestorben. Aber Slavik konnte durchkommen. Er war sehr schwer krank. Darüber hinaus lebte er in der Kindheit im Kinderheim. Das war ein starker Mensch, aber die Krankheit hat ihn entmutigt. Wir haben ihm dort alles, auch Süßigkeiten und so … Ich weiß jetzt nicht mehr, ob er noch am Leben ist.
N.K.: Klar.
T.I.: Auf der Station für Radiologie waren sehr viele interessante Menschen wie wir. Jeder hatte seine eigene Geschichte.
N.K.: Also, haben Sie dann eben auf dieser Station einander kennen gelernt?
T.I.: Ja! So […] bleiben wir auch heute in Kontakt. Wir waren zusammen auch in Skadowsk, in einem Sanatorium. Ich habe da ein Mädchen kennen gelernt, die dorthin [nach Tschernobyl] zum Praktikum geschickt wurde, als Köchin, mit 18 Jahren.
N.K.: Noch, noch jünger.
T.I.: Noch jünger, das stimmt. So, und ich kann Ihnen sagen, dass ich nicht bereue. Das ist ein, ein Teil meines Lebens. Das sind nicht drei Wochen, sondern… Vielleicht habe ich ein Leben vor Tschernobyl gelebt, dann kommt ein kleiner Teil und dann das Leben nach Tschernobyl. Also, ich sage sogar nicht „… nach der Heirat…“ oder so was.
N.K.: … waren…
T.I.: Ja, ähm… Ich…, wissen Sie, ich weiß nicht, ich bin immer auf der Suche. Sogar jetzt bin ich auf der Suche, ich möchte immer etwas Neues machen, trotz meines Alters. Ich brauche immer Gemeinschaft und Kommunikation. Ich brauche immer wieder einen neuen Bekanntenkreis, weil ich einen pathologischen Wissensdrang habe. Nicht so um das Wissen zu haben, sondern ich brauche immer neues Wissen. Ich möchte über den Weltraum wissen, ich möchte wissen wie… Ach ja, ich habe einmal mit Bergarbeitern gesprochen. Mir war sehr interessant zu wissen, wie sie diese, alle diesen Schemen zusammenstellen. Ich habe einen Markscheider kennengelernt. Er hat mir erzählt, alles ausführlich erklärt. Ich hörte ihn mit Begeisterung …
N.K.: Aha.
T.I.: So, 1991 habe ich geheiratet. Meinen Mann habe ich am 9.Mai kennengelernt. Und am 16.August haben wir uns geheiratet. Alles war sehr schnell.
N.K.: Im selben Jahr war das?
T.I.: Im selben Jahr? 1991. So, und dann hatten wir ein Problem, wir konnten keine Kinder bekommen. Dieses Problem hatten wir bis zum Jahr 1995. Niemand konnte es lösen. Sogar Genetiker haben sich mit unserem Problem auseinandergesetzt, es fand sich aber kein Grund. Es gab keinen Grund, die Eltern waren gesund, aber konnten keine Kinder kriegen. Also, es gab verschiedene Blutgruppenkreuzversuche, aber das sind schon eher familiäre Fragen.
N.K.: Das stimmt.
T.I.: Aber wir haben alles gemacht. Ich bin studierte Medizinerin, darum habe ich alles gemacht, absolut alles, alle Kreise der Hölle. Man fand aber keinen Grund dafür [für die Kinderlosigkeit]. Und im Jahr 1995 erfuhr ich, dass ich schwanger war. Am 29.Juni 1996 habe ich meinen Sohn Jan geboren. Ein sehr guter Junge ist er, ein Hansdampf in allen Gassen. Manchmal macht er mich einfach verrückt. Ja, was er alles bereits ausprobiert hat! Und jetzt studiert er an der Universität für Luft- und Raumfahrt Charkow, schon seit drei Tagen … (lacht). Nein, ich bin sehr zufrieden. Ich bin geschieden, aber wir bleiben mit meinem Ehemann in Kontakt. Ich bleibe in Kontakt mit meinen Mitschülern, auch von der Berufsschule. Ich habe mein Studium an der biologischen Fakultät der Karazin-Universität absolviert. Und [mit meinen Studienkameraden] bleibe ich auch in Kontakt. Ich mag diese Universität. Und wenn ich in ein Kurheim fahre, so habe ich danach immer einen Notizblock … „Hallo, Glückwünsche zum Geburtstag“. Ich liebe Menschen, aber ich mag keine Lüge. Und wenn jemand versucht mich zu betrügen … Ich bin nicht so klug und scharfsinnig. Aber wissen Sie, das ist wohl ein…
N.K.: … ein Gefühl/
T.I.: So … ich brauche nur fünf Minuten, um zu verstehen, ob dieser Mensch mir gefallen will, einfach ein Mensch, nicht so ein Mann oder eine Frau.
N.K.: Einfach ein Mensch.
T.I.: … oder vielleicht versucht er, mich hereinzulegen … „Ich bin so gut, dass es einfach unmöglich ist, mich nicht zu mögen“. Ich fühle das. Und die Lüge ist leicht zu entdecken, wenn ein Mensch nicht dreimal dasselbe wiederholen kann, verstehen Sie. Und wenn ich Ihnen diese Geschichte erzähle, so kann ich sie noch zwanzigmal … Vielleicht ergänze ich etwas, vielleicht sage ich noch etwas dazu. Aber im Großen und Ganzen ist das die Geschichte, sie ist echt. Und wenn ich… Wenn ich beim Eintritt in die U-Bahn meine Bescheinigung vorlegte und hinter meinem Rücken hörte: „Sie hat das gekauft …“. So … Ich war zu jung, verstehen Sie, na ich war doch erst 25 Jahre alt, und die Leute, die dort im Einsatz waren, waren bereits 40 und über 45. Dieses Alter entspricht doch der Wahrheit. Aber woher kommt diese [junge Frau] doch?
N.K.: Na, das ist klar.
T.I.: Ich habe viele demütigende Worte gehört. Man wollte überprüfen, zurückrufen. Wir mussten nach Kiew fahren, um die erhaltene Strahlungsdosis bestimmen zu lassen. Und in Kiew mussten wir eine Arbeitsbegleitkarte ausfüllen. Die Armeeangehörigen haben solche Arbeitsbegleitkarten. Wir mussten schreiben, wo wir jeden Tag tagsüber waren. In meinem Fall war das alles ganz einfach: von 6 bis 24 Uhr haben wir gearbeitet, von 24 bis 6 geschlafen. Na, alles ganz einfach: Frühstück, Mittagessen, Abendessen, so. Die Strahlungswerte wurden nicht ermittelt. Man hat einfach die Durchschnittswerte genommen. Na, wissen Sie, wo ich auch war, wo ich auch die Liquidatoren getroffen habe, habe ich noch nie einen Pseudoliquidatoren kennengelernt, na ja, es gibt aber einen (lacht). Na ja, wissen Sie, das ist vielleicht auf der Ebene des Gewissens, das… Heutzutage ist der Begriff „Gewissen“ nicht mehr in, aber ich glaube, wenn ein Mensch gelogen hat, etwas gekauft [fürs Geld etwas erworben hat, was er eigentlich nicht haben konnte – Anm. d. Übers.].Oder … na ja, so hat er sich selbst betrogen. Und irgendeinmal muss er seine Tat büßen. Wissen Sie, wir… Wissen Sie, das ist wie in der Psychologie, wenn ein Mensch die Situation nicht bewältigen kann, wiederholt sich diese noch einmal.
N.K.: Aha.
T.I.: Diese Situation kommt wieder vor, so oder anders, bis er sie bewältigt. Ich glaube, dass solche Menschen es nicht so leicht haben. Mit fällt das leicht, weil ich das alles so einfach erzählen kann. Ich habe leicht reden. Ich habe es immer leicht. Schwer ist es nur mit Papieren. Ähm, ich will gar nicht verheimlichen, dass ich eine Rente bekomme. Ich bin Invalidin der zweiten Gruppe, und zwar lebenslang. Aber alle diese Fragen mit Papierkram im Zusammenhang mit Tschernobyl … Das ist wohl viel schrecklicher als … na, ich weiß einfach nicht.
N.K.: Das ist klar.
T.I.: Das ist eine sehr umfangreiche Frage. Und wenn man versucht gegen den Rentenfonds, gegen Vollzugseinrichtungen zu kämpfen und es führt ins Gericht … Das ist einfach entsetzlich.
N.K.: Ja, das ist klar.
T.I.: Was für eine Demütigung ist das alles! Ich habe drei Jahre lang prozessiert. Ich weiß nicht, ob ich darüber erzählen soll. Aber meine Unterlagen sind plötzlich verschwunden und ich musste den Rechtsweg gehen. Ich sollte beweisen, dass ich sie hatte. Und ich hatte diese Unterlagen. Und die Richterin, ich will nicht den Bezirk, den Namen nennen, sagte mir: „Ihre Mutter muss sich schämen. Wieso hat sie Sie nach Tschernobyl geschickt und das gar nicht verhindert?”
N.K.: Aha.
T.I.: Ich habe ihr nicht geantwortet und bin einfach in Tränen ausgebrochen. „Ich hätte meine Tochter …“ Ich will nicht …
N.K.: Ja, das ist doch klar.
T.I.: So, ich hatte nie im Leben irgendwelche Fragen an meine Mutter, niemals. Sie weiß doch, wenn ich mir etwas vorgenommen habe, so konnte weder sie noch der Vater, der damals noch lebte … Nein, das war meine eigene Entscheidung, darum bin ich ein ziemlich selbstständiger Mensch.
N.K.: Und könnten Sie mal sagen, ähm, über die Sperrzone von Tschernobyl. Ich habe eine Frage, wie … Na, es ist interessant, ob Sie und andere Liquidatoren … Na, wenn Sie wüssten, dass man dorthin fahren könnte und dass es dort sicher, ungefährlich sei, also nur aus dem Gefühl heraus gehandelt würden Sie dorthin fahren, die Orte besichtigen, wo Sie damals waren?
T.I.: Wissen Sie, mein Herz ist nicht dort geblieben, nein. Ich kann sagen, dass ich dorthin fahren würde, aber … ebenso könnte ich zum Beispiel auch nach Kamenez-Podolski reisen, ja. Ich reise gern. Jedoch unter dem Zwang der Verhältnisse…na…
N.K.: Das heißt, dass es keine Bindung zu diesem Ort besteht, stimmt das?
T.I.: Nein, nein, ich kann das nicht behaupten. Das kann ich nicht sagen. Ich muss eher sagen, dass ich Kiew sehr liebe, ich weiß aber nicht warum. Und nach Tschernobyl würde ich vielleicht fahren, um … um die Poliklinik zu sehen, na …
N.K.: Na, klar.
T.I.: Wissen Sie, jeder hat das anders, das sage ich ehrlich.
N.K.: [Mir war es einfach] interessant zu wissen, wie das bei Ihnen ist.
T.I.: Ich sage unverhohlen, mein Herz ist nicht dort geblieben.
N.K.: Und was halten Sie von den Exkursionen in die Sperrzone für Menschen, die ein Interesse daran haben … na …
T.I.: Ebenso viel wie vom Bungee-Jumping von der Brücke in Saporischschja.
N.K.: Aha ...
T.I.: Das ist praktisch dasselbe …
N.K.: Dann sagen Sie bitte, was Sie vom Bungeejumping von der Brücke halten? (lacht)
T.I.: Meine Meinung ist negativ.
N.K.: Negativ, stimmt das?
T.I.: Ich sage Ihnen ehrlich. Ich schwärmte einmal sehr vom Eistauchen. ich bin eingetaucht, jedoch nicht mit dem Kopf. Das war am 25. Januar, das ist mein Namenstag, ich heiße doch Tatiana. Fallschirmspringen betrachte ich auch als möglich, aber dass ein gesunder Mensch in die Sperrzone fährt … Wissen Sie, zurzeit besteht ein großes Problem mit onkologischen Erkrankungen. Das Problem ist so groß, dass … Und das Problem besteht sogar nicht darin, dass die Diagnostik, ja, dass die Frühzeiterkennung der Weg zum Sieg ist. Wenn eine Erkrankung frühzeitig erkannt wird, kann man doch weiter leben, na vielleicht doch immer unter einer bestimmten Medikation, aber man kann doch leben. Aber wenn man unter solchen Umständen selbst sein Unglück holt …
N.K.: Ja.
T.I. Eine Freundin von mir arbeitet in der radiologischen Klinik. Jeden September kommt eine neue …
N.K.: Eine neue Partie … von Menschen …
T.I.: Na, sagen wir eine neue Pa …. Ich will einfach nicht so über die Menschen sagen.
N.K.: Na, ich wollte einfach … ja.
T.I.: Eine neue Partie von Menschen, die mit Verdacht auf Hautkrebs kommen. Das ist die Sonnenbräune. Wozu …Wozu jagt man nach Abenteuern, die ein klägliches Ende nehmen können. Ich … ich kann das nicht begreifen. Ich glaube, dass man so was nicht tun sollte. Na, zum Beispiel, Journalisten, die eine Reportage machen. Das ist für den Beruf, vielleicht. Ebenso wie Ärzte. Ich habe keine Möglichkeit zu wählen. Wir nehmen einen Kranken auf. Ich weiß gar nicht, was für Krankheiten er hat. Das ist ein fremder Mensch. Ich weiß nicht, was er da hat, Hepatitis oder HIV, oder was anderes. Wenn man dringend Hilfe braucht … Verstehen Sie … Später wird alles geklärt. Ebenso wie auch Journalisten. Wenn einer zum Beispiel einen Auftrag bekommen hat, zum Ort zu fahren, Aufnahmen zu machen, jemanden interviewen. Dort leben doch Menschen, ältere Leute. Ich weiß nicht genau, dort leben doch Leute, die sich wohl fühlen. Das ist was anderes. Aber wenn man dorthin fährt, verstehen Sie, das ist doch alles auf der Zell-Ebene… Und wenn eine Zelle plötzlich entscheidet abzuarten. Unser Körper produziert doch eine große Menge von diesen Krebszellen. Und bei dem kleinsten Ausfall schon, beim kleinsten Ausfall … können sie sich einfach in … verwandeln. Als ob sie mit Kriegshandlugen beginnen, verstehen Sie. Und wenn sie dabei noch angereizt werden… So ist meine Stellungnahme.
N.K.: Aha.
T.I.: Und ob das möglich oder unmöglich ist. Das kann auch ein Irrtum sein. So ist meine Stellungnahme. Weil wir unsere Nation erhalten müssen, verstehen Sie, sie ist doch … so leidgeprüft, die ukrainische Nation. Hungernot, so viele Ukrainer waren während der Hungersnot[4] vern … sind gestorben, einfach so, weil das … weil das ein Programm war …
N.K.: Na…
T.I.: …[ein Programm] zur Vernichtung der ukrainischen Nation. Tschernobyl, die ATO, verstehen Sie. Und wenn man noch dazu nach Abenteuern sucht… nach Ärger mit Gesundheit… Mit seiner Gesundheit sollte man keine Späßchen machen, das behaupte ich als Arzt. Man kann sich mit kaltem Wasser abgießen, um seine Immunsystem zu stärken. Aber wenn man in die Sperrzone zu einem Spaziergang fährt und dazu noch… nein.
N.K.: Und noch eine Frage. Was halten Sie von Veranstaltungen, die diesen Ereignissen gewidmet sind? Na so, im Großen und Ganzen (lacht)?
T.I.: Sie wissen doch, Gott sei Dank, dass sie durchgeführt werden. So kann man deren gedenken, die … Erstens sterben sehr viele Menschen in einem Jahr, vom 26. April bis zum 26. April. Zweitens kann man sich treffen, miteinander einfach über das Leben sprechen. Wir sprechen nicht über Tschernobyl. Dieses Thema ist so… Wissen Sie, wir alle waren dort. Wir sprechen einfach über das Leben, wie … wie es einem geht. Wir freuen uns über Kinder, Enkel, Hochzeiten, Ausbildung. Wie was einem gelingt. Und Gott sei Dank, dass man das alles hat. Weil ich mich immer freue, mich mit den Liquidatoren zu sehen. Ebenso wie „Afghanen“[5] treffen sich gerne miteinander. Jedoch sind solche Veranstaltungen für „Afghanen“, sie … na, Sie verstehen doch. Es gibt immer weniger davon. Obwohl diese Menschen in einem Krieg waren, der absolut unbegründet war, auch so, na, Sie verstehen das doch. Es ist gar nicht klar, wozu diese Entscheidung getroffen wurde. Und … Ich war damals gerade Schülerin, als diese Särge [aus dem Afghanischen Krieg] kamen. Na, wenn man das sah, so… ein zugelöteter Zinksarg. Was ist das denn … Und das war ein Junge, der auch in meiner Schule gelernt hat. Er war aber etwas älter, verstehen Sie. Das ist ein großes Unglück. Auch was jetzt passiert, ist ein großes Unglück.
N.K.: Na klar …
T.I.: Deswegen muss man sich treffen, sich sehen, sich unterhalten, sich ablenken. Man muss sich freuen. Wissen sie, ich bin 49 Jahre alt und ich weiß nicht, wieso diese Jahre so schnell vergangen sind. Ich habe fast nichts geschafft. Na, gut, die Ausbildung, so, die Ausbildung, die Arbeit. Na, ich habe einen Sohn, meine Freude… Abee ich habe nichts geschafft und 49 Jahre das ist schon ziemlich viel. Ich möchte, ich möchte noch so viel schaffen. Sie wissen doch auch, dass die Zeit, sie … dass sie unerbittlich ist. Die Geburtstage sind immer öfter, so oft, öfter als im Alter von 20 Jahren. Alle Kinder möchten erwachsen werden. Das ist nicht einfach zu erklären. Ich habe auch so gesagt: “Ich möchte erwachsen werden“, so wie mein Sohn jetzt sagt. Aber jetzt will ich gar nicht erwachsen werden.
N.K.: Na und dann noch eine Frage an Sie über zukünftige Generationen. Was glauben Sie, aus Ihrer Lebenserfahrung und daraus, was Sie alles mit 20 Jahren in Tschernobyl erlebt haben? Und Sie haben doch eine Erfahrung … Obwohl Sie sagen, dass Sie nichts geschafft haben, wissen Sie doch viel mehr als die, die noch zur Welt kommen und gar nichts über das Leben, über Tschernobyl und anderes wissen. Interessant wären Ihre Schlussfolgerungen, die hilfsreich sein könnten für die, die darüber vielleicht nur im Lehrbuch lesen werden. Vielleicht etwas, vielleicht etwas, was wichtig ist, woran man immer denken müsste oder was man auf keinen Fall vergessen sollte. Vielleicht auch aus dieser Perspektive. Was würden Sie besonders betonen?
T.I.: Wissen Sie, ausgehend davon, was wir heute haben, kann ich nicht behaupten – verstehen Sie, ich kann einfach nicht sagen, dass die Jugend von heute schlecht ist. N-n … nein. Weil dafür, dass sie so ist, so viele Ämter und Behörden arbeiten. Unsere Kinder sind gut, aber sie verlieren in dieser Welt den Kopf. Man muss sehr stark sein, um dagegen Widerstand leisten zu können. Verstehen Sie, Kinder müssen doch gutherzig sein, gutherzig älteren Menschen gegenüber, gutherzig Schwangeren gegenüber, gutherzig denen gegenüber, denen etwas … z.B. wenn jemand hinfällt. Man soll nicht nur in seinen vier Wänden leben, nur in seiner eigenen Welt, verstehen Sie. Man muss trotzdem, trotz alledem auch das Leben lieben. Erst vor Kurzem haben wir begriffen, was bedeuten die Worte „Wir wünschen euch Frieden“, so. Wir haben diesen Friedenswunsch gar nicht geschätzt. Wir wünschten anderen Gesundheit, Erfolg, Wohlstand, Wohlergehen. Und „Frieden“ war nur noch Zusatz. Erst jetzt haben wir begriffen, wie wichtig es ist, wovor man Angst hat.
N.K.: Aha.
T.I.: Gestern hat es geregnet. Vor dem Regen hat etwas so gerasselt. Und ich wohne so, dass ich [vom Fenster] Gosprom[6] sehen kann. Ich stehe und überlege: „Mein Gott, wie soll mein Sohn mit Marschrutka durch das Stadtzentrum fahren soll? Und wenn da plötzlich geschossen wird oder ein Terroranschlag ist? Und wie soll ich auf Arbeit gehen, wo sind meine Unterlagen?“ In nur fünf Minuten hatte ich so viele Gedanken. Wo ist die Mutter … Und das … Und das war nur der Regen. Und ich denke: ”Mein Gott …” Können Sie sich vorstellen, wie schrecklich das war, wenn Kinder … sich während des Bombenanschlags unter dem Tisch versteckt haben.
N.K.: Ja, stimmt.
T.I.: Das muss man schätzen. Und ich sage und wiederhole das noch mehrmals: Alle Sachen sind vergänglich. Ich arbeite in der Abteilung für Reanimation. Ich sehe, was der Mensch mitnimmt, wenn er aus der Welt scheidet – nichts. Ebenso wie er in diese Welt kommt ohne Geldtasche, ohne Geld, mit nichts. Aber alle wollen leben, alle bit … auch mit 80 Jahren will man leben. Man muss das Leben schätzen. Man muss Menschen schätzen, so wie sie auch sind, auch brummige oder böse. Ich flehe Sie an, ich ... Ich bin auch zum Psychologen gegangen, ich hatte damals noch einige Lebensfragen. Alles ist sehr interessant, darum muss ich auf jede Frage eine Antwort finden. Wenn ich das nicht selbst kann, so bitte ich um Rat. Und sie [Psychologin] hat mir gesagt: „Du musst einfach lächeln, nur leicht mit Mundwinkeln, du fährst doch gleich auf der Rolltreppe nach unten, in der U-Bahnstation Puschkinskaja, einfach […] verrückt“. Und das funktioniert gut, verstehen Sie, das funktioniert. Das ist kein richtiges Lächeln, einfach so, einfach ein Schmunzlächeln, ein gutherziges Schmunzlächeln. Die Menschen lächeln auch und sehen mit Interesse.
N.K.: Wow! Ja?
T.I.: Ja. Man muss lächeln, man muss sich freuen und dabei alles schätzen, auch den Regen und den Wind, und … und den Sturm, und … na, ich weiß nicht, jede Minute. Das … na, das muss man trotzdem einfach … Wissen Sie, etwas muss dem Menschen passieren, damit er darauf Wert legt. Man sagt, man schätzt, erst nachdem man verloren hat. Aber man muss nicht bis zum Verlust treiben. Man muss Geliebte, Eltern, Kinder lieben und schätzen. Und, ich weiß nicht, man muss nicht unbedingt Lagerfeuer machen, grillen. Mein Gott, iss einfach ein belegtes Brötchen. Aber diese Brände, mir tut alles und alle Leid: Gras, Tiere, Vögel … Na… Verstehen sie, was wir kostenlos haben, ja, gehe und nimm, atme, höre, schwimme, bade … - nein. Nein, wir müssen unbedingt satt essen, wir müssen essen und unbedingt schmuddeln.
N.K.: Vielen Dank.
T.I.: Na, Liebe, nur Liebe. Man muss lieben. Männer, Frauen, Kinder, nur Liebe und Herzensgüte.
N.K.: Vielen Dank.
(Teil 2, Ende)
N.K.: Ja, es läuft.
T.I.: Das war wie ein Blitz, ein prägnantes Ereignis. Ich bin dort einem Menschen begegnet, in Tschernobyl … Er war dort auch dienstlich, ein Militärangehöriger. Und wir verliebten uns. Na, das war wohl unter ... unter [jenen] Umständen. So wissen Sie, in der Not schmeckt jedes Brot (lacht). Na, was sollte man da tun? Und die Gefühle waren so stark, dass diese Strahlung, dieser 18-stündige Arbeitstag, das alles blieb außer Acht, weil wir nächtelang im Korridor unserer Poliklinik miteinander plauderten […] von morgens bis abends. Worüber haben wir geredet, weiß ich nicht mehr. Das waren Gespräche ohne Ende. Das alles war aber anst … anständig. Die Gefühle waren doch so … wissen Sie, so … Als ob ich diesen Menschen schon lange gekannt hätte. Also, wir … Ich bin dem Menschen begegnet, den ich wohl irgendwann in meinem früheren Leben gekannt habe. Ich weiß nicht. Wir haben uns dann später natürlich getrennt. Er ist zu sich nach Hause gefahren. Er kommt auch aus Charkow. Aber der Wunsch uns wieder in Charkow zu sehen … Gerade dort entstanden diese hohen Gefühle. Und hier war das schon … hier war doch alles so ruhig. Wissen Sie, das ist wie in einem Sommercamp, dort ist die Liebe, aber wenn man nach Charkow kommt, ist alles irgendwie …
N.K.: Und alles ist in Ordnung.
T.I.: Und auch nicht so hübsch war er, [dazu] ein Brillenträger … (lacht).
N.K.: Alles klar.
T.I.: So war das, so...
N.K.: Vielen Dank.
[1] Im Frühling 2014 wurde durch die Ukraine die „antiterroristische Operation“ eingeleitet, die gegen die Verbände der revoltierenden Donbass-Gebiete und die sie unterstützenden russischen Truppen gerichtet war. Die Operation dauerte von 14. April 2014 bis 30.April 2018 (Anm. d. Übers.).
[2] die zentrale Straße der ukrainischen Hauptstadt Kiew (Anm. d. Übers.).
[3] Tschernobyler oder Liquidatoren – Bezeichnung für während und nach der Katastrophe von Tschernobyl an der Eindämmung des Unglücks Beschäftigte, um die radioaktive Strahlung zu liquidieren (Anm. d. Übers.).
[4] Gemeint wird die schwere, menschengemachte Hungersnot in der Ukraine in den Jahren 1932 und 1933, der nach unterschiedlichen Berechnungen 3,5 bis 14,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Umstritten ist die Bewertung der historischen Ereignisse. Viele Historiker meinen, dass die Hungersnot durch die Politik Stalins vorsätzlich verursacht wurde, um den Widerstand der Ukrainer zu brechen (Anm. d. Übers.).
[5] Als “Afghanen” werden ehemalige Soldaten der Einheiten für den Afghanistan-Einsatz der sowjetischen Armee genannt. Die sowjetische Intervention in Afghanistan war der Einmarsch und das militärische Eingreifen der Sowjetunion in Afghanistan 1979 - 1989 auf der Seite der Regierung gegen die zahlreichen Gruppierungen afghanischer Mudschaheddin, die damals politisch und materiell von den führenden Staaten der NATO und der islamischen Welt unterstützt wurden (Anm. d. Übers.).
[6] Das Gosprom ist ein Gebäude des Konstruktivismus im Zentrum von Charkow.